Potentiale und Perspektiven

Etwa 50.000 Menschen arbeiten in Berlin im Bereich Umweltschutz. Wirtschaftsexperten sehen auf diesem Sektor noch Potentiale in der Region brachliegen
■ Von Volker Wartmann

„Der Senat betrachtet Umweltschutz doch als Luxus und nicht als Entwicklungschance“, sagt Carmen Schultze, Pressereferentin beim BUND. „Der Bereich Umweltschutz muß endlich enger mit anderen Politikbereichen verknüpft werden. Dann könnte in diesem Bereich auch eine große Zahl an neuen Arbeitsplätzen geschaffen werden.“

Etwa 50.000 Menschen arbeiten derzeit in Berlin mittelbar oder unmittelbar im Bereich Umweltschutz. Diese Zahl ermittelte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für das Jahr 1993 in seiner derzeit aktuellsten Studie. Das sind immerhin gut drei von hundert Arbeitsplätzen. Aus der hohen Gesamtbeschäftigungszahl kann jedoch nicht ohne weiteres auf eine besondere Wettbewerbsstärke Berlins im Umweltschutzbereich geschlossen werden. Zu einem großen Teil ist die hohe Beschäftigtenzahl Folge der für eine Großstadt zwangsläufig notwendigen Entsorgungsleistungen. Knapp die Hälfte aller im Umweltschutz Beschäftigten ist bei den Berliner Stadtreinigungsbetrieben (BSR) oder im Abwasserbereich der Berliner Wasserbetriebe (BWB) tätig.

Über die Hälfte aller Arbeitsplätze im Umweltbereich kann dem Dienstleistungssektor zugerechnet werden. Im produzierenden Gewerbe werden in Berlin rund 17.000 Arbeitsplätze durch den Umweltschutz ausgelastet. Bei Institutionen wie Planungs-, Verwaltungs- und Vollzugsbehörden sind in Berlin gut 5.000 Personen beschäftigt.

Die Zahl der im Umweltschutz Beschäftigten auf dem freien Markt hat das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung unter Mitarbeit des Berliner Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung gGmbH (IÖW) ermittelt. Rund 13.000 Menschen in 400 Betrieben waren 1993 demnach in Berlin im Umweltbereich beschäftigt. Verglichen mit dem Ergebnis einer Studie von 1987 für West-Berlin hat sich die Beschäftigtenzahl in Berlin seitdem mehr als verdreifacht. Etwa zwei Drittel der im Rahmen der ifo-Studie befragten Anbieter zählen zum Dienstleistungssektor. Über die Hälfte der Anbieter ist erst seit 1990 auf dem Umweltschutzmarkt tätig. „In Berlin sind nur kleine und mittlere Unternehmen ansässig“, sagt Ulrich Petschow, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim IÖW. „Großanlagenbauer fehlen in Berlin. Diese Unternehmen haben ihren Sitz vorwiegend in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg.“

Nach Ansicht der Wirtschaftsexperten vom DIW liegen in Berlin so manche Potentiale im Umweltschutzbereich brach. „Die Nachfrage ist da, es fehlt das Angebot. In der Umweltschutzgüterproduktion hinkt Berlin im bundesweiten Vergleich hinterher“, so Martin Gronig, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim DIW. Nach Berechnungen des DIW besteht in Berlin jährlich eine Nachfrage nach Umweltschutzgütern im Umfang von rund 2,7 Milliarden Mark. Demgegenüber steht die Produktion von Umweltschutzgütern mit einem jährlichen Gesamtumfang von 2 Milliarden Mark. Von dieser Gesamtmenge werden Güter im Wert von etwa 600 Millionen Mark in andere Bundesländer und das Ausland exportiert. Das heißt, von den insgesamt nachgefragten Umweltschutzgütern im Wert von 2,7 Milliarden Mark wird nur etwa die Hälfte in Berlin produziert. Die andere Hälfte mit einem Umfang von rund 1,3 Milliarden Mark stammt aus anderen Regionen. Die „Gesamteinfuhren“ Berlins an Gütern und Leistungen für Umweltschutzzwecke waren 1993 also rund doppelt so hoch wie die „Ausfuhren“. „Die Wettbewerbsschwäche Berlins im Umweltschutzbereich resultiert nicht allein aus Defiziten im engeren Feld der Anbieter von Umweltschutztechnik“, analysiert das DIW. „Sie ist vielmehr im Zusammenhang mit den generellen Problemen des Industriestandortes Berlin zu sehen.“

„Inbesondere vor dem Hintergrund des bevorstehenden Beitritts einiger östlicher Nachbarstaaten in die EU können sich für Berlin zusätzliche Perspektiven eröffnen. Im Bereich Umweltschutz besteht in den osteuropäischen Ländern ein enormer Nachholbedarf, wenn dort bald EU-Recht gilt“, sagt Lothar Stock, Leiter des Referats Grundsatzfragen der Umweltpolitik, Umweltförderung und überregionale Angelegenheiten bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie. „Bei nur 80 Kilometern bis zur polnischen Grenze hätten Berliner Firmen gegenüber anderen in Westdeutschland ansässigen Unternehmen durch die geographische Lage bedeutende Standortvorteile.“ Seit 1995 versucht der Senat durch die Organisation von Workshops, potentielle osteuropäische Interessenten und Berliner Unternehmen zusammenzuführen. Die finanziellen Mittel hierfür stammen aus dem Programm Zukunftsinitiative Ökologisches Wirtschaften (ZÖW).

Der BUND hält die umweltpolitischen Aktivitäten des Senats für unzureichend. „Berlin hat schon viele Chancen verpaßt, in der Umweltpolitik Signale zu setzen“, sagt Pressereferentin Schultze. „Anzeichen, daß sich die Situation in Zukunft zum Positiven verändern könnte, sind nicht erkennbar. Um eine Ökologisierung der Wirtschaft voranzutreiben, ist eine Förderpolitik notwendig, die deutliche Zeichen in dieser Richtung setzt, beispielsweise durch die gezielte Förderung alternativer Energien.“