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Rettungsanker Reminiszenz

■ Musikalisches Sittengemälde: Ray Davies rührte im Curio Haus

Die Reminiszenz ist das Brot der zweiten Lebenshälfte. Auch Ray Davies griff dankbar nach dem Rettungsanker, den seine musikalisch gestreckte Autobiographie X-Ray in die stille See künstlerischer Stagnation geworfen hatte. Aber er tat dies am Freitag abend im passenden Ambiente des Curio Hauses mit Stil und Klasse, mit dramatischem Geschick und sicherem Gespür für Stimmungen und Spannungsbögen.

Dabei hatte es zu Anfang der 2 1/2-stündigen Performance noch arg nach Kinks-Klamauk ausgesehen, als die Klassiker „Lola“und „Dead End Street“herhalten mußten. Ein unnötiger Publikumstest, denn das Auditorium fraß dem Schlaks alles aus der Hand, gab gern den Chor-Part und stand am Schluß mit abgewetzten LP-Hüllen vor der Bühne, auf die ein ergriffener Davies flugs Autogramme kritzelte.

Erst mit „The Storyteller“fing der Abend wirklich an – ein rührendes Bemühen um Traditionen oraler Überlieferung, wo doch Davies klar sein muß, daß auch er ohne mediale Vermittlung nicht da oben stehen würde. Befreit von der Last, dem mit hübschen Sticheleien bedachten Brother Dave Auslauf für Gitarrensoli zu gewähren, konnte der Mann sein komödiantisches Potential voll ausschöpfen, gab aber die kleine Alltagstragödie nie der Lächerlichkeit preis.

Songs wie „Art School Babe“und die begleitenden Anekdoten ließen eine Zeit auferstehen, in der Britannia wohl wirklich noch cool war. Der mythische „Front Room“wurde zur Projektionsfläche für ein Sittengemälde der britischen Arbeiterklasse in den Swinging Sixties, der Dissidenz im gesichtslosen Nord-Londoner Suburb: „I'm Not Like Everybody Else!“Mit der Liebeserklärung an die großartige Banalität übersteuerter Verstärker und hingehobelter Blues-Akkorde („You Really Got Me“) neigte sich der Vorhang. Und als Pete Matheson die vertrauten Licks des letzten Songs herauskitzelte, wähnte man sich tatsächlich einen kurzen Moment lang im Paradies eines Sonnenuntergangs in Waterloo.

Jörg Feyer

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