Atomschrott zu Straßen

EU-Kommission will Schrott aus Atomreaktoren recyceln. Widerstand regt sich in Frankreich und England  ■ Von Peter Sennekamp

Den Teilnehmern des gestrigen Sonntagsspaziergangs um das stillgelegte Atomkraftwerk Rheinsberg in Brandenburg bot sich wiederholt ein interessanter Anblick: In der Landschaft stehen 90.000 Tonnen Atomschrott herum. Doch welcher Spaziergänger hätte gedacht, daß 95,5 Prozent des Abrißmülls – Stahl, Beton, Glas, Kunststoff – künftig für den Straßen- und Häuserbau wiederverwertet oder für die Stahlproduktion wieder eingeschmolzen werden sollen. Grundlage ist die EU-Richtlinie 96/29, mit der im Mai 2000 Atommüllrecycling zulässig wird.

Der Megamarkt „AKW-Abriß“ boomt: Weltweit wird die Abrißbranche in den kommenden dreißig Jahren mehr als 400 Millarden Mark umsetzen. Damit die Verschrottung für AKW-Betreiber nicht zu teuer wird, drängen europäische Nuklearlobbyisten die EU-Kommission seit drei Jahren, kostengünstige Recyclingvorschläge zu unterbreiten.

Was in der französischen und britischen Öffentlichkeit einen Aufschrei auslöste, ist in der Bundesrepublik kaum ein Thema, obwohl 16 Forschungs- und Leistungsreaktoren wie beispielsweise das AKW Würgassen bereits auf ihren Abriß warten. Und obwohl „zirka zwölf weitere Kernkraftwerke in den nächsten Jahren stillgelegt werden“, wie der Verein Deutscher Ingenieure berichtet. 11.000 Unterschriften, davon 4.000 bei europäischen Vereinigungen und Verbänden, hat die „Unabhängige Kommission zur Information über Radioaktivität“, die von der französischen Parlamentsabgeordneten Michele Rivasi gegründet wurde, gesammelt. Mit ihrer Aktion, die der britische Europaabgeordnete Chris Busby und der EU-Berichterstatter über die Strahlenrichtlinie, Paul Lannoye, unterstützen, will die Kommission „die rein ökonomischen Gründe des Atommüllrecyclings im Interesse der Nuklearindustrie“ anprangern.

Die zuständigen EU-Minister irritiert das bislang nicht. Mit dem euphemistischen Slogan „bestmögliche Strahlenvorsorge“ einigten sie sich auf europaweit gültige Strahlengrenzwerte, die weit über den nationalen Werten liegen. Ziel ist, mindestens 95 Prozent des Reaktorschrotts durch Vermengen mit unbestrahltem Material unter den EU-Grenzwert zu drücken, um die „Freigrenze für Wiederverwendung“ zu erreichen.

Zwar kommt eine von der EU- Kommission eingesetzte Sachverständigengruppe ebenfalls zu dem Ergebnis, daß „die Beseitigung, Wiederverwertung und Wiederverwendung von Material aus dem Rückbau (von AKW , d. Red.) im Europäischen Binnenmarkt zu unzulässigen Strahlenbelastungen führen könnte“, doch die Kommission selbst hält weiter an der Recyclingrichtlinie 96/29 fest.

Denn der Druck der AKW-Betreiber ist groß: Bisher planen sie 800 Millionen Mark für die Stillegung pro Reaktorblock ein. Wenn aber der Widerstand gegen das Strahlenrecycling wächst, könnten sich die Kosten verdreifachen und die für den bundesdeutschen Reaktorabriß steuerfrei zurückgelegten 54 Millarden (1996) Mark der Betreiber zu knapp werden. Denn auch der niedrigstrahlende, verdünnte Schrott, den Nuklearwissenschaftler zuletzt auf der Märzkonferenz in Münster als Gefahr für die Gensubstanz bezeichneten, müßte auf Jahrzehnte zwischengelagert werden, um anschließend kostenträchtig im Schacht Konrad unter die Erde geschafft zu werden. Doch bei strengeren Grenzwerten wäre der spätestens in dreißig Jahren bis zur Oberkannte abgefüllt und das „Entsorgungskonzept“ der deutsche Atomwirtschaft obsolet.

Das Kosten- und Platzproblem gilt weltweit: Bis 2010 werden rund 250 Atomreaktoren stillgelegt. Doch sind „Rückbaukonzepte und Methoden für die gasgekühlten Reaktoren mit Spannbetonbehälter noch nicht erprobt, auch die Entsorgung von Baumaterial und die abschließende Freigabe von Standorten und Gebäuden bereiten noch technische Schwierigkeiten“, so die Nuklearexperten Simon und Schaller. In den USA setzt man bereits auf die Billigvariante: „Fester Einschluß der Reaktoren auf unbegrenzte Zeit.“