Bankrotterklärung in Übergröße

■ "XXLiving" navigiert durch das moderne Leben und Gruner+Jahr in publizistische Abgründe

Sie sind in den 80er Jahren großgeworden. Nun sitzen sie in einem Konferenzraum. Daheim haben sie langstielige Champagnergläser. Sabine war mal bei Quick, Norbert bei der Bunten, Wolfgang bei P.M., und als sie mal was trinken gegangen sind, haben sie gewettet, wie- drehend Joghurtkulturen sind. Nun sitzen sie da und sollen für Gruner + Jahr eine neue Zeitschrift machen. Vorn steht der Verlagschef. „Service, Service, Service!“ gängelt er, „und an die Zielgruppe denken!“ – „Kein Lifestyle! Lebenslust, Lebensart!“ – „Anzeigenkunden!“ – „Fertigwerden!“ Wochen später: Die Zeit drängt, Mr. G+J bekommt die erste XXLiving-Ausgabe vorgelegt. „Um Gottes willen“ denkt er und sagt: „In Gottes Namen ...“

Derlei kommt einem in den Sinn, wenn man sich durch die „176 Seiten inklusive 68 Anzeigen“ (G+J-Sprecher Heinz Kirchner) blättert, die seit vergangener Woche am Kiosk liegen. Wie sonst ließe sich das uninspiriert zusammengestoppelte Häppcheninfotainment erklären? „Schluckt uns der Euro?“; „Jogging for beginners“; „Die skurrilsten Gesetze der Welt“ usw. – ein unübersichtlicher XXOverkill an XXS-Softnews.

XXLiving ist Ihr Navigator. Sie sind der Kapitän!“ steht aber im Editorial. Kopf- und führerlos ist der Navigator, allein einen „Verantwortlichen“ gibt es, Wolfgang Stegers. Der ehemaliger P.M.-Redakteur und „gnadenlose Brabbler“ (Selbsteinschätzung) findet es „wahnsinnig toll, daß im Hause Gruner+Jahr auch eine Zeitung gemacht werden kann, die von Journalisten gemacht wird“. Aber „keine Liftstylezeitung“: „Lebensfreude, Lebensart“, darum gehe es und, „Schwellenängste überwinden zu helfen“ („Schluckt uns der Euro?“ usw.).

„Wir wollen und können den Journalismus nicht neu erfinden“, natürlich. Auch vor dieser journalistischen Bankrotterklärung schreckt Stegers nicht zurück. Und der deutsche Zeitschriftenjournalismus werde mit XXLiving weder untergehen noch neu geschrieben werden.

Das kann man so stehen lassen. Max, GQ, Focus, Bleib gesund (die Kundenzeitschrift der AOK) ... XXLiving plagiiert sie alle, optisch, inhaltlich, stilistisch und schlecht. Außerdem sind die 350.000 Exemplare an den Kiosken noch gar nicht fertig. Auf Seite 24: „Wählen kann man die zwei- oder viertürige Version, den Kastenwagen oder die“ – Hier bricht der Text einfach ab. Und 137 Seiten später endet nicht nur die dortige Handy-Typ-Beratung mitten im Satz, sondern auch die dazugehörigen Infoboxen: „Das erspart Ihnen“ steht dort z.B., und man möchte hinzufügen: “... immerhin eine Handvoll Gewäsch“.

Auf die Frage, ob das der neue journalistische Standard von Gruner+Jahr sei, schweigt G+J-Sprecher Kirchner am Telefon, nahe daran, das Gespräch abzubrechen. Schließlich werde er dafür bezahlt, nichts Negatives über XXLiving zu erzählen, sagt er dann. Was ihm um so leichter fallen mag, als der kluge Mann ohnehin „nicht jede Zeile gelesen“ hat. Denjenigen, denen das Heft nicht paßt, empfiehlt Herr Kirchner ähnliches. Sie sollten es gar nicht lesen. Auch das kann man so stehenlassen. Christoph Schultheis