Belgiens Polizei läßt mutmaßlichen Kindermörder Dutroux laufen

■ Dutroux überwältigt im Justizpalast NeufchÛteau Polizisten und nimmt ihm die Waffe ab. Flucht mit dem Auto

Brüssel (taz) – Gestern nachmittag meldete der belgische Rundfunk um 16 Uhr knapp: „Der mutmaßliche Mörder und Kinderschänder Marc Dutroux ist vor einer Stunde aus dem Justizpalast in NeufchÛteau ausgebrochen. Er trägt Turnschuhe, Häftlingskleidung und hat nach wie vor seinen Schnurrbart. Er ist bewaffnet und mit einem Renault Megane unterwegs.“ Gut eine Stunde später sorgte ein Abgeordneter für Verwirrung, der erklärte, Dutroux sei wieder gefaßt. Die Polizei dementierte.

Belgien ist in heller Aufregung, Spekulationen über einflußreiche Freunde erhielten neue Nahrung. Denn Dutroux, der mindestens sechs Mädchen zum Teil monatelang gefangengehalten, sexuell mißbraucht und vier davon getötet haben soll, war offensichtlich nur von zwei Polizisten aus der Haftanstalt in den Justizpalast begleitet worden. Er sollte sein Dossier einsehen. In der Eingangshalle schlug er einen der Polizisten nieder und nahm ihm die Dienstwaffe ab. Vor dem Gebäude zwang er einen Autofahrer aus dem Wagen und fuhr davon. In den ersten Stunden seiner Flucht hat er laut Polizeiangaben zweimal das Fahrzeug gewechselt.

Seit fast zwei Jahren saß Dutroux in Untersuchungshaft. Immer wieder wurden die Ermittlungen behindert, beispielsweise als der zuständige Untersuchungsrichter Jean-Marc Connerotte vom Obersten Gericht abgelöst wurde. Connerotte hatte mit den Eltern der ermordeten Kinder Spaghetti gegessen und galt den Richtern deshalb als befangen.

Der Prozeß gegen Marc Dutroux sollte frühestens 1999 beginnen. Ein parlamentarischer Untersuchungsbericht stellte nicht nur unglaubliche Schlampereien bei der Verfolgung von Dutroux fest, er bestätigte auch den Verdacht, daß der Kinderschänder Freunde in der Polizei hatte. Er wurde als V-Mann bei Autoschmuggelaffären eingesetzt, obwohl er selbst als Drahtzieher von Autobanden galt. Er wie auch sein mutmaßlicher Komplize Michel Nihoul brüsteten sich, daß ihre Verbindungen auch in die Politik reichten. In Belgien glauben ohnehin viele, daß die Verbrechen an den mißbrauchten Mädchen nie ganz aufgeklärt werden. Beweise, daß Politiker oder Justizbeamte zur Kundschaft des Kinderpornohändlers Dutroux gehört haben, gibt es nicht. Aber es ist nicht auszuschließen, daß sie auf einer der von Nihoul organisierten Sexparties fotografiert und damit erpreßt wurden.

Der Ausbruch von Dutroux wird die Diskussion neu entfachen. Warum wurde der als gefährlichster Mann Belgiens eingeschätze Dutroux so nachlässig bewacht? Gab es Leute, die ihm die Möglichkeit zur Flucht geben wollten, um den Prozeß zu verhindern? Aber vielleicht ist die Wahrheit viel einfacher: In der belgischen Polizei wird einfach nur so schlampig und gedankenlos weitergearbeitet, wie es im parlamentarischen Untersuchungsbericht beschrieben ist. Alois Berger