Wie ein Blatt im Wind

Mehr als vier Millionen Palästinenser leben in dritter und vierter Generation in den arabischen Ländern, eine weitere halbe Million im Rest der Welt. Sie gelten als die „48er Flüchtlinge“, benannt nach dem Jahr ihrer Vertreibung oder der ihrer Vorfahren. Ihre Zukunft ist vollkommen ungewiß

Von Thomas Dreger

Hassan hat in seinem Leben gelernt, hastig Kisten und Koffer zu packen und eilig das Weite zu suchen. Seine Lebensgeschichte gleicht einer Odyssee. „Meine Heimat ist Jaffa“, behauptet der Fünfzigjährige, obwohl er keine fünf Jahre in dem heutigen Stadtteil von Tel Aviv gelebt hat – und das liegt immerhin fünfzig Jahre zurück. Heute sitzt der ergraute Herr als Gestrandeter der Weltgeschichte im Nebenraum einer Berliner Kirche, deren Gemeinde Flüchtlinge unterstützt.

Als 1948 der arabisch-israelische Krieg begann, gehörte er zu mehr als einer Million Palästinensern, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden; sie flohen in das damals jordanische Westjordanland, den ägyptischen Gaza-Streifen oder die benachbarten arabischen Staaten. Hassans erste Adresse lautete Sabra, ein Slum im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut. Hier und in dem angrenzenden Lager Schatila massakrierten nach dem israelischen Einmarsch 1982 christliche Falangisten mehr als tausend Palästinenser unter den Augen der israelischen Armee. Hassan war bereits wieder weg und suchte sein Glück in Qatar, am erdölreichen Golf. „Die Zeit dort war sehr gut“, erinnert er sich. „Ich war Vertreter für vier Petro-Firmen und hatte ein hohes Einkommen.“ 1990 kam die nächste Katastrophe. „Nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait hat mich der Chef des Geheimdienstes einbestellt“, berichtet Hassan. Er wurde haftbar gemacht, für die pro-irakische Position der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und sollte das Land binnen eines Monats verlassen.

Hassan beantragte Visa bei den Botschaften fast aller arabischen Bruderstaaten – vergeblich. Schließlich durften er und seine Familie in die DDR einreisen, einen Staat, über den er fast nichts wußte. Zwei Wochen später machte in der DDR der letzte das Licht aus und im vereinten Deutschland fühlte sich niemand für die Belange der Palästinenser zuständig. Dennoch gelang es Hassan, seine Familie durchzubekommen – bei Mißbilligung durch die Behörden. Ein Asylantrag wurde abgelehnt, statt dessen gab es eine alle sechs Monate zu verlängernde Duldung. „Meine Kinder gehen hier zur Schule. Ein Sohn macht gerade Abitur. Er will studieren. Aber ich fürchte, daß wird ihm verwehrt“, erzählt Hassan. Weil keiner von ihnen eine Arbeitserlaubnis bekommt, lebt die Familie von Sozialhilfe.

Seit 1993 droht die Abschiebung in den Libanon. Im vergangenen Frühjahr wurde es ernst. Die Bundesregierung verhandelte mit dem Libanon über die Abschiebung geschätzter 10.000 aus dem Libanon eingereister Palästinenser, da übte Berlins Innensenator, Exgeneral Jörg Schönbohm, vorauseilenden Gehorsam. Im April 1997 erhielt Hassan Post vom Landeseinwohneramt. Letztmals wurde eine dreimonatige Duldung erteilt. Seither hat Hassan Panik: „Wenn ich in den Libanon abgeschoben werde, hilft mir dort niemand. Seit zehn Jahren habe ich keinen Briefkontakt zu Verwandten.“

Hassan und seine Familie leben noch immer in Berlin. Denn die libanesischen Behörden sind renitent: Botschaften und Konsulate verweigern Palästinensern die Ausstellung von Reisedokumenten, Grundlage für die Abschiebung. Der knapp drei Millionen Einwohner zählende Libanon ist zu klein, um das zentrale Flüchtlingsproblem des Nahen Ostens zu lösen. Zudem würden die zumeist sunnitischen Palästinenser das fragile ethnisch- religiöse Proporzsystem des Staates verschieben. Und: Viele Libanesen verübeln den Palästinensern noch immer, daß die PLO einst in ihrer Heimat einen Staat im Staat aufbaute und damit einen der Anlässe für 15 Jahre Bürgerkrieg lieferte. – Derzeit lebten 360.000 Palästinenser im Libanon, beklagte jüngst Präsident Elias Hrawi und forderte, für sie müsse eine Lösung gefunden werden, „aber nicht im Libanon.“

Der Beiruter Stadtteil Sabra – nach Ansicht Berliner Beamter Hassans Heimat – sieht aus, als sei hier gestern noch geschossen worden. Dabei herrscht seit 1990 Waffenruhe. Fast neunzig Prozent der Palästinenser hier sind arbeitslos, weil ihnen auch die libanesische Regierung eine Arbeitserlaubnis verweigert. „Menschlicher Abfall“, nannte sie Außenminister Faris Bueis einmal, „displaced people“ heißen sie im Jargon des UN-Palästinenser-Hilfswerks UNRWA. Weil sich die Organisation seit Unterzeichnung der palästinensisch-israelischen Friedensabkommen auf die Autonomiegebiete im Gaza-Streifen und Westjordanland konzentriert, wurden die Mittel für palästinensische Flüchtlinge radikal gekürzt. „Ich kann derzeit jedem Palästinenser im Libanon nur raten, nicht krank zu werden, weil wir kein Geld für Krankenhäuser mehr haben“, erklärte vergangenes Jahr UNRWA-Generalsekretär Peter Hansen hilflos.

Das Gaza-Gebäude in Sabra war einst ein Krankenhaus. Heute sind die insgesamt vier Blocks, fünf bis neun Etagen hoch, Kriegsruine und Zuhause für 358 Flüchtlingsfamilien. Die Treppe zur ersten Etage rinnt Wasser herunter mit kleinen Schaumkronen darauf. Es stammt aus einer Gemeinschaftsküche, der man die zehn Jahre alten Brandspuren noch ansieht. Keiner der Bewohner will durch Renovierungsarbeiten signalisieren, daß er hier bleiben will. Und doch sind sie schon jahrelang hier. Zwei junge Palästinenserinnen waschen sich zwischen Küchenabfällen gegenseitig die Haare, daher kommt der Bach auf der Treppe. Die Frauen machen sich schick, tragen Schuhe mit Plateausohlen und enge, modisch karierte Hosen. In der noblen Beiruter Innenstadt soll ihnen niemand die Herkunft ansehen. „Ich bin im Libanon geboren. Meine Familie wohnt seit fünf Jahren in diesem Gebäude“, sagt eine. „Wir haben nichts anderes gefunden. Aber unsere Heimat ist das hier nicht. Die liegt im besetzten Palästina.“

Jene Heimat hat die junge Frau nie gesehen, denn geboren und aufgewachsen ist sie im Libanon. Aber wie soll man sich heimisch fühlen, wenn man sich mit zwanzig Großfamilien eine Ruinenetage ohne Türen teilt? Zimmer sind nur durch Tücher abgetrennt. Dahinter vermitteln dampfende Teekannen und jaulende Kassettenrecorder den Eindruck improvisierter Privatsphäre. Auf ein Zimmer kommen im Durchschnitt vier bis sechs Bewohner. Im Parterre führt ein Gang in die Sanitätsstation des Hauses, das einzige Überbleibsel des Krankenhauses. Das medizinische Gerät ist antiquiert. Dafür ist der Raum gewienert und der Patientenandrang groß. Hinter einem Schreibtisch residiert Ahmad Ali Ahmad. „Wir sind auf die Versorgung von Müttern und Kindern spezialisiert“, erklärt der Lehrer und palästinensische Selfmade-Mediziner. Aber angesichts der desolaten Lage kümmere man sich auch um andere Fälle. Die UNRWA kürze weiter die Mittel und die libanesische Regierung tue alles, um die Palästinenser wegzuekeln. Doch eine andere Zuflucht für sie gebe es nicht. „Wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen,“ sagt der Mittvierziger mit ratlosem Gesicht.

In Dokumenten des Nahost-Friedensprozesses tauchen die „48er Flüchtlinge“ nur indirekt auf. Als Jassir Arafat vor fast fünf Jahren seinen Frieden mit Israel schloß, unterschrieb er, die Flüchtlingsfrage nach zwei Jahren zu „diskutieren“. Passiert ist bis heute nichts. Im Rahmen der multilateralen Verhandlungen wurde eine „Arbeitsgruppe Flüchtlinge“ eingerichtet. Diese solle eine „migrationspolitische Lösung“ des Problems finden, formulieren Diplomaten. Im Klartext heißt das: Eine Rückkehr der „48er Flüchtlinge“ nach Palästina ist ausgeschlossen.

An den Wänden von Sabra prangen Graffiti mit der Forderung nach der Befreiung ganz Palästinas – der kaum verbrämte Aufruf aus der Frühphase der PLO, die Juden ins Meer zu treiben. „Das sind nur Parolen“, wiegelt Ahmed Ali Ahmad ab, der sich durchaus vorstellen kann, im Libanon zu bleiben – wenn er dort nicht als „Bürger fünfter Klasse“ behandelt würde. Hauptproblem in Sabra und Schatila seien nicht Militanz und Aggressivität, sondern „Depressionen“. Und eines könnten die Leute hier ganz gewiß nicht gebrauchen: „Noch mehr palästinensische Flüchtlinge, die es schon bis Deutschland oder sonstwohin auf der Welt geschafft haben.“ Das bedeute: „Öl in das Feuer zu gießen.“