Die belgische Regierung steht am Abgrund

■ Bis Dienstag hat Regierungschef Dehaene Zeit, um die verschleppten Reformen anzupacken

Brüssel (taz) – Der Innen- und der Justizminister sind sofort zurückgetreten. Der christdemokratische Regierungschef Jean-Luc Dehaene könnte am Dienstag kippen. Drei Oppositionsparteien haben im belgischen Parlament einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung gestellt: Sie habe nicht mehr „die moralische Autorität, das Land zu führen“.

Belgische Regierungen sind schon über kleinere Probleme gestolpert als über den Ausbruch eines Kinderschänders. Doch Ministerpräsident Dehaene galt die letzten Jahre als Garant für politische Stabilität, die in Belgien nicht selbstverständlich ist. Er hat den komplizierten Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen, an dem acht Regierungen vor ihm schon nach kurzer Zeit gescheitert waren, in den Griff bekommen. Und er hat das hochverschuldete Land sicher in die Europäische Währungsunion geführt.

Deshalb fürchten viele, der Sturz Dehaenes könnte Belgien in die alte Unsicherheit zurückwerfen. Doch der Ausbruch von Dutroux hat die Schwächen seiner Regierung gnadenlos offengelegt. Er hat es nicht geschafft, Polizei und Justiz aus den Klauen der Parteien zu befreien, nicht einmal, sie zu reformieren. Um das labile Gleichgewicht seiner Vierer-Koalition nicht zu gefährden, hat er es unterlassen, die Macht der Parteien zu beschränken. Justiz- und Innenminister waren zu schwach, die Verantwortlichen für die sagenhaften Fahndungspannen der Dutroux-Affäre zur Rechenschaft zu ziehen. Niemand wurde bisher bestraft oder entlassen. Das Vertrauen der Bevölkerung in den Sicherheitsapparat tendiert gegen Null.

Dehaene wollte das Problem aussitzen und Gras über die Sache wachsen lassen. Er hätte es fast geschafft. Doch nach dem Ausbruch von Dutroux sind alle bösen Geister zurückgekehrt. Wenn er bis Dienstag keine Radikalreform auf den Tisch legt, steht er frei zum Abschuß.

Noch zögern viele Abgeordnete. „Niemand will Neuwahlen“, schilderte eine Reporterin die Stimmung im Parlament. Denn nach jüngsten Umfragen müßten die Regierungsparteien dabei mit einem Desaster rechnen. Doch der Druck auf die Abgeordneten steigt. Die Bevölkerung will Konsequenzen sehen. Die zwei Ministerrücktritte reichen nicht aus. Die gesamte belgische Regierung steht am Abgrund. Alois Berger