■ Vorlauf
: Vielschichtig

„Reiz der Haut", 22.30 Uhr, WDR

„Auf meinem Körper haben schon 225 verschiedene Tätowierer gearbeitet“, erzählt Theo Vetter mit ruhigem Stolz, während die Kamera über seinen fast vollständig bebilderten Body gleitet. Der 65jährige Rentner aus Hamburg-St. Pauli findet Befriedigung darin, seine Haut extremen Reizen auszusetzen. Allerdings ist die Tattoo-Manie noch harmlos im Vergleich zu anderen Leidenschaften, die Carmen Eckhardt und Felix Kuballa in ihrer Dokumentation über die Haut und das menschliche Bedürfnis nach Berührung zeigen.

Der 60minütige Film beginnt ganz leise und poetisch: Ein blinder Schriftsteller und Fotokünstler beschreibt, welche Bedeutung das Tasten für seine Wahrnehmung hat; eindrucksvolle Aufnahmen zeigen, wie wichtig Hautkontakt für die physische und psychische Gesundheit (nicht nur) von Babys ist. Dann aber wenden sich die Autoren drastischen Seiten des Themas zu. Die bemitleidenswerte Chirurgie- und Busen-Queen Lolo Ferrari („die Brust haben wir fünfmal gemacht“) versucht zu erklären, weshalb sie zwanghaft ihre Haut zu Markte trägt; andere schildern, warum sie sich schlagen lassen oder was sie an Piercing und der „Königsdisziplin“ Branding fasziniert. An die Grenze des Erträglichen gehen die Bilder von einer Fakirshow in Köln, bei der sich ein Akteur an zahlreichen durch seine Haut gezogenen Nadeln aufhängen läßt. Und auch die Detailaufnahmen von der Gesichtsoperation einer französischen Künstlerin, die durch gezielte Verunstaltung ihres Körpers „gegen Schönheitsideale“ ankämpfen will, sind nichts für Zartbesaitete. Zum Monstrositätenkabinett verkommt „Reiz der Haut“ dennoch nicht: Die Autoren behandeln spektakuläre und weniger spektakuläre Aspekte im gleichen ruhigen Ton, verzichten auf jegliche Sensationshascherei. Statt dessen beeindrucken sie durch Recherche. Selbst für kleine Exkurse besuchten die Filmemacher eine Autistin in den USA oder einen Performancekünstler in Australien. Das Ergebnis ist eine fesselnde Dokumentation, die der Vielschichtigkeit ihres Themas in vollem Umfang gerecht wird.Peter Luley