Liebe mit Licht an

Die neuen Telenovelas in Mexiko handeln von selbstbewußten Frauen und kriminellem Alltag – mit großem Erfolg  ■ Von Anne Huffschmid

Maria Inés ist, wie man so sagt, in die Jahre gekommen. Und mit ihr ihre Ehe: Siebenundzwanzig von ihren fünfzig Lebensjahren ist sie verheiratet, als behütete Politikergattin kennt sie von der Welt nicht viel mehr als ihren graumelierten Ehemann. Der smarte Gatte legt sich eine Geliebte zu, die arglose Angetraute kommt dahinter und ist fassungslos. Soweit alles wie gehabt, so realistisch wie klischeebeladen. Die Betrogene aber bricht das Klischee und nimmt sich ihrerseits einen Liebhaber – und was für einen: Alejandro ist fast zwanzig Jahre jünger, sinnlich und sensibel, kurz: ein Traum von einem neuen Mann.

Dies private Melodram wäre kaum der veröffentlichten Rede wert, würden nicht allabendlich ein paar Millionen Mexikaner daran teilhaben. Seit einem halben Jahr zieht der „Blick der Frau“ (Mirada de Mujer), eine der neuen „realistischen“ Telenovelas, das mexikanische Publikum in seinen Bann – und hat eine Lawine von Debatten um Liebe, Familie und den Geschlechterkampf losgetreten.

Denn anders als beim „Aschenputtel-Schema“ der traditionellen Telenovelas, wie die melodramatischen Seifenopern aus der Traumfabrik des lateinamerikanischen Fernsehens genannt werden, wirbeln die Protagonisten des „Frauenblicks“ durch ein wahres Themenkarussell der Moderne: von Abtreibung, Vergewaltigung und sexueller Belästigung über prügelnde Ehemänner und ökonomische Abhängigigkeit, jede Menge außer- und vorehelichen Sex bis hin zu Aids und Brustkrebs.

Mit Einschaltquoten von bis zu 30 Prozent ist „Mirada de Mujer“ eine der erfolgreichsten Serien der letzten Jahre. Zwar werden in einem Land, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung an oder unter der offiziellen Armutsgrenze lebt, sich die wenigsten in der gutsituierten Mittelschichtsszenerie wiedererkennen. Das weibliche Begehren nach Sex, nach Aufbruch und Unabhängigkeit, so die Schauspielerin Angélica Aragón alias „Maria Inés“, aber sei heute eben längst „keine Klassen-, sondern eine Geschlechterfrage“.

Die scheint zunehmend auch für das männliche Geschlecht interessant zu sein. „Wir haben das klassische Telenovela-Publikum erweitert“, sagt Produzent Epigmenio Ibarra, „heute schauen uns nicht mehr nur Hausfrauen der unteren Schichten zu, sondern auch Jugendliche, berufstätige Frauen, Intellektuelle – und sogar Männer.“

Ein „absolutes Novum“ nennt die Journalistin Yoloxochitl Casas, die einen Workshop feministischer Autorinnen über „Frauenblick“ organisierte, die Tatsache, daß eine üppige Fünfzigjährige im Mittelpunkt steht. Doch auch die übrigen Figuren verkörpern die Ambivalenzen des modernen Mexiko: die Großmutter als Inkarnation des alten, konservativen Familienideals, die drei erwachsenen Kinder als Vertreter einer verunsicherten Generation. Und schließlich, als Gegenentwurf zur klassischen Macho-Attitüde, die beiden neuen Männer der Serie. „Heute lassen wir beim Liebemachen das Licht an“, lautete einer der Sätze, der die Workshop-Teilnehmerinnen besonders entzückte.

Den „Blick der Frau“ als feministisch zu bezeichnen, wäre wohl dennoch übertrieben. So kommen auch hier berufstätige Frauen entweder nicht vor oder schlecht weg. Beispielsweise in Gestalt einer jungen Verlegerin, die ihrem Angestellten Alejandro nachstellt und dabei alle Kriterien einer sexuellen Belästigung erfüllt. Und ein so frauenbewegtes Sujet wie der Schwangerschaftsabbruch wird nur als Folge einer Vergewaltigung erörtert – und dabei allen Ernstes als vergleichbar traumatische Erfahrung präsentiert.

„Wir wollen ja keine Didaktik betreiben“, wehrt sich Ibarra gegen die Kritik von feministischer Seite. Insgesamt sei die große Resonanz auf „die eher moderate Botschaft“ der Serie wohl am ehesten ein Zeichen dafür, „daß es den Frauen in diesem Lande immer noch verdammt schlecht geht.“

Pingpong: Zuschauer–Bildschirm

Als bekannt wurde, daß der selbstbewußten Vierzigjährigen vom Drehbuch ein elender Aids-Tod zugedacht war, löste dies einen Proteststurm aus. Paulina sei schon eine tolle Frau, verteidigte sich der Autor, aber sie übertreibe es eben ein wenig – Aids sei gewissermaßen ein „Preis für ihre Promiskuität“. Die linksliberale Öffentlichkeit reagierte entsetzt.

Und der Protest zeigte Wirkung: Nun wird Paulina zwar nach wie vor am Aids-Virus zugrundegehen, nun aber nicht mehr als Strafe für ein lockeres Liebesleben sondern als Folge einer Vergewaltigung.

Dieses neuartige Pingpong zwischen Zuschauern und Bildschirm ist das Produkt eines neuen Wettbewerbsdenkens, das nicht nur in der politischen sondern auch in der medialen Landschaft Mexikos Einzug gehalten hat. Jahrzehntelang hatte das TV-Imperium Televisa, einer der mächtigsten Medienkonzerne der Welt und Erfinder des Telenovela-Formats, das Quasi-Monopol auf die mexikanischen Bildschirme und Zuschauerpräferenzen.

Seit der Sender TV Azteca vor vier Jahren aus der Privatisierung zweier Staatskanäle hervorging und sich seitdem als innovativer Kommerzsender profiliert, scheint es damit ebenso vorbei zu sein wie mit dem Politmonopol der Staatspartei PRI. „Die Leute haben heute die Möglichkeit, sowohl den Fernsehkanal wie auch die Partei zu wechseln“, sagt Ibarra.

Und ausgerechnet die kleine Produktionsfirma Argos, die sich unter Ibarra durch engagierte Politdokumentationen einen Namen gemacht hatte, wurde von TV Azteca 1996 damit beauftragt, ein „neues Telenovela-Konzept“ zu entwickeln.

Heraus kam die Serie „Nada Personal“ (etwa: nicht persönlich zu nehmen), die heute als Zäsur in der mexikanischen Fernsehgeschichte gilt. Hier ging es noch nicht um den Blick hinter Familienkulissen, sondern um die Kloaken der öffentlichen Macht, um Drogenfilz und Korruption. Der allabendliche Politthriller im Miniformat wurde zum echten Realitätsschock für die angestammte Telenovela-Gemeinde.

Grauzone zwischen Medien und Wirklichkeit

Der Protagonist: ein Polizeikommandant mit dem imposanten Decknamen „Aguilar Real“ (der königliche Adler), der allerlei unliebsame Mitwisser auf dem Gewissen hat und gelegentlich in Kolumbiens Hauptstadt jettet, um dort Kokainexporte zu verhandeln. Die Wirklichkeit sollte den Serienthriller bald ein- und überholen. Gerade drei Tage nach dem Schlußkapitel berichteten die Medien von der Festnahme des obersten Drogenfahnders des Landes, der einen der mächtigsten Drogenhändler Mexikos gedeckt haben soll. „Der Aguilar Real existiert also“, schlußfolgerte der Kommentator einer großen Zeitung.

In der Fortsetzung diente dann mit Amado Carrillo ein real existierender Drogenboß als Vorbild. Der soll zwar letztes Jahr bei einer Gesichtschirurgie ums Leben gekommen sein. Die meisten Mexikaner aber glauben auch heute noch, daß dieses nur ein schmutziger Trick sei. Entsprechend erfreut sich „Armando Castillo“ in „Demasiado Corazón“ (Zuviel Herz) bester Gesundheit – und arbeitet eng zusammen mit einem der höchsten Generäle des Landes.

„Damit haben wir nun wirklich gefährliches Terrain betreten“, meint Ibarra – die Armee war bislang „ein absolutes Tabu“. Es sei möglicherweise nur eine Frage der Zeit, wann entweder die Kartelle „die Sache nicht mehr komisch finden“, sagt er, „oder die Armee will dem Ganzen ein Ende setzen“. Die Zensur aber ist durch den Erfolg der Serien längst löchrig geworden. So geht es für Fernsehmacher wie Epigmenio Ibarra heute darum, die „neuen Freiheiten“ auszuloten und weiter in der Grauzone zwischen Fernsehen und Wirklichkeit zu experimentieren. „Beim nächsten Mal legen wir uns mit der Kirche an“, sagt er und grinst verschwörerisch.

Die vierte Telenovela von Argos heißt „Tentaciones“ (Versuchungen) und wird in Kürze anlaufen. Der Skandal ist vorprogrammiert: Im Mittelpunkt steht diesmal ein verliebter Priester.