Zucker für den Chinesen-General

■ Seit sieben Wochen sind sechs Exiltibeter in Neu-Delhi im Hungerstreik. Drei von ihnen wurden jetzt von einem Polizeiaufgebot zur Zwangsernährung ins Krankenhaus gebracht – der Besuch einer hochrangigen chinesischen Regierungsdelegation soll nicht gestört werden.

Die Behörden von Neu-Delhi wollen dem Hungerstreik von sechs tibetischen Flüchtlingen in Indiens Hauptstadt ein Ende setzen. Am Samstag morgen reihten sich erstmals zwei indische Ärzte in die Schar der zahlreichen Besucher, die seit dem 10. März zu den Streikenden in ihr Zelt am Rand des Jantar Mantar-Parks kommen. Sie untersuchten die sechs und stellten akute Unterernährungssymptome fest. Die Tibeter haben in den heute 49 Tagen ihres Proteststreiks täglich nur ein Glas Zitronenwasser zu sich genommen, und eine symbolische Rauchschwade gerösteter Gerste eingeatmet.

Für die Mitglieder des Tibetischen Jugendkongresses, der die Aktion organisiert, war der Arztbesuch ein Signal. Denn in diesem Land zahlreicher Hungerstreiks weiß man, daß ein medizinischer Bericht meist das Vorspiel von Verhaftung und Zwangsernährung ist. Noch in der gleichen Nacht war es dann soweit. Um Mitternacht gelang es einem Aufgebot von 200 Polizisten, drei der Tibeter in wartende Autos zu setzen. Als Anhänger der Streikenden herbeieilten und gegen die gewaltsame Aktion protestierten, zogen die Beamten ab und fuhren mit ihren Gefangenen in ein nahes Spital, wo sie intravenös mit Zuckerlösung zwangsernährt wurden.

Die Geduld der indischen Regierung scheint erschöpft. Innerhalb der zerbrechlichen Koalition hatte er unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen und Spannungen freigelegt. Regierungspolitiker, wie Verteidigungsminister George Fernandes, solidarisierten sich mit den Fastenden, und die Studentenorganisation der größten Regierungspartei BJP sandte einen Unterstützungsbrief. Innerhalb der BJP und vor allem in der Verwaltung dominiert jedoch die Meinung, daß die Präsenz der tibetischen Flüchtlinge ein Hindernis für eine Normalisierung des Verhältnisses mit China darstellt.

Der bevorstehende Besuch des chinesischen Armeechefs an der Spitze einer großen Delegation, so glaubt der Präsident des tibetischen Jugendkongresses, Tseten Norbu, sei der Anlaß gewesen, einzuschreiten. Der lange Streik hatte der Welt – und China – ein weiteres Mal gezeigt, daß Indien der zentrale Schauplatz tibetischer Freiheitsbestrebungen ist. Nun sollte zumindest verhindert werden, daß der Streik zum Kern von Protestdemonstrationen während des Generalsbesuchs würde.

Aber auch für die Streikenden droht die Hungeraktion zunehmend ins Leere zu laufen. Mit ihrem Protest appellieren sie an die UNO, für Tibet einen UN-Sonderbeauftragten für Menschenrechte einzusetzen. Gleichzeitig hatten sie den UNO-Generalsekretär gebeten, die Tibetfrage in der Generalversammlung zur Debatte zu bringen und diese zu drängen, in Tibet ein Plebiszit über die Zukunft des Landes durchzuführen. Doch von Kofi Annan erhielten sie nur begütigende Worte, und auch Mary Robinson, die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, gab lediglich die Zusicherung, bei ihrer geplanten Chinareise die Frage Tibets auf den Tisch zu bringen.

Am vergangenen Freitag ging die Session der Menschenrechtskommission in Genf zu Ende, ohne in ihrem Schlußbericht Tibet auch nur zu erwähnen. Eine Inderin, die sich in der Nähe des Zeltes aufhielt, gab am Samstag die Meinung vieler ihrer Landsleute wieder, als sie meinte: „Wenn Terroristen mit Flugzeugentführungen Menschen in ihre Gewalt bringen, dann spurt das internationale System. Bei gewaltlosen Aktionen, wenn die Protestierenden nur dem eigenen Körper Schaden zufügen, passiert gar nichts.“

Die Hungerstreikenden, unter denen sich auch eine 68jährige Frau befindet, waren am Samstag zu erschöpft, um sich darüber Sorgen zu machen. Bei 37 Grad im Schatten vermögen einige von ihnen nur noch die Gebetsschnur zu bewegen und ihr Mantra zu flüstern. Es sind einfache Leute, die in einem alten Militärzelt auf Pritschen liegen – unter ihnen ein 70jähriger Tagelöhner aus Manali, ein Bauarbeiter und ein Thangka- Maler. Ihre Aktion spiegelt den Grad der Hoffnungslosigkeit wieder, die viele Tibeter nach 40 Jahren Exil ergriffen hat. Dennoch löste der Streik ein beträchtliches Echo aus. In verschiedenen Ländern kam es zu Solidaritätsstreiks, und eine Reihe von Außenministerien sandten ihre Botschaftsvertreter in den Jantar Mantar-Park, um sich mit der tibetischen Exilgemeinde zu solidarisieren – und ihre Passivität in den internationalen Gremien zu beschönigen. Besucher wie der Schauspieler Richard Gere sorgten dafür, daß sich die Medien um die Aktion zu kümmern begannen.

Auch der Dalai Lama kam aus der Exilhauptstadt Dharamsala und unterhielt sich mit den sechs Aktivisten. Der Zuspruch, den er gab, war allerdings keine Ermunterung zum Weiterfasten. Als Tibeter bewundere er den Mut seiner Mitbürger, sagte er. Als Buddhist müsse er das Hungerfasten aber ablehnen, denn es bedeute Gewalt gegen den eigenen Körper und dessen göttliche Natur. Es ist eine Haltung, welche die Freunde der Streikenden – bei allem Respekt vor ihrem Oberhaupt – ablehnen. Sie identifizieren sich vielmehr mit der Haltung von Mahatma Gandhi, der mit der Züchtigung des eigenen Körpers eine Bewußtseinsbildung herbeiführen wollte. „Für uns ist Gewaltlosigkeit“, sagt Karma Yeshi, der Vizepräsident des Jugendverbands, „das Vermeiden von Gewalt am anderen. Aber Gewalt erleiden ist nicht gegen den Buddhismus. Für viele unserer Mitbürger in Tibet ist es zudem eine alltägliche Realität.“

Falls auch die letzten drei Hungernden abgeführt und zwangsernährt werden, stehen schon zahlreiche Freiwillige bereit, um von Neuem zu beginnen. Ob sie sich damit nicht den Zorn Indiens zuziehen, von dessen Toleranz und Gastfreundschaft die 140.000 Exiltibeter vollständig abhängig sind? „Nein“, sagt Yeshi. „Falls uns hier ein härteres Los erwartet, wird uns dies wieder bewußtmachen, daß Indien ein Exil ist und daß wir dafür kämpfen müssen, in unser eigenes Land zurückzukehren.“ Bernhard Imhasly, Neu-Delhi