Monolog ohne Monster

Gaston Salvatore fragt mit „Heß“ nach der Stumpfheit nationalsozialistischer Pflichterfüller. Jetzt wurde das biographische Personendrama in Weimar uraufgeführt  ■ Von Hartmut Krug

Speer oder Heß, das war für Gaston Salvatore die Frage. Eine historische Figur soll Geschichte verkörpern, soll das Prisma sein, durch das wir Geschichte und unser Verhältnis zu ihr klarer sehen. „Schillernd war Albert Speer“, er war der „ideale Theaterheld“. Doch dann hat sich Salvatore Hitlers „an der Barbarei“ mitschuldigen Stellvertreter zum „Theaterhelden“ gewählt: „Heß war kein blendendes Ungeheuer, vielmehr haftete etwas Graues, Stumpfes, Gewöhnliches an ihm. Aber ebendieser Mangel war das, was mich an ihm interessierte. Es mußte mir gelingen, aus einem mediokren Mann eine anziehende Theaterperson zu machen.“

Eine historische Figur zu einer Theaterfigur aufbauen, die sowohl Demonstrationsobjekt wie sinnliches Subjekt ist: das ist das Hauptproblem der „Personaldramen“, die in letzter Zeit öfter auf deutsche Bühnen drängen. Gaston Salvatore konstruiert sich selbst noch ein weiteres Bühnenproblem. Er zeigt Heß als letzten Gefangenen in seiner Einzelzelle in Berlin- Spandau. Dieser Heß redet nur einen einzigen großen Reflexionsmonolog mit sich selbst, auch dann, wenn er mit seinen alliierten Bewachern Meinungen austauscht. Das Ganze: ein erklärendes Denkstück.

Die Spandauer Gefängniszelle ist bei Salvatore zugleich auch die Kabine des Flugzeugs, in dem Heß am 10. Mai 1941 nach England flog. Zu einer subjektiv als Friedensmission gedachten Aktion, mit der Rudolf Heß in die Falle der Geschichtsmacher geraten zu sein meint. Seine Wahrheit gegen die der Alliierten, die statt eines, seines, Friedens einen Sieg wollten.

Heß, 1966 hoffend auf Freilassung, Heß, bei Perestroika-Beginn in Rußland um sein Leben fürchtend – die deutsche Gegenwart schallt nur undeutlich durch die Mauern ins Spandauer Gefängnis hinein. Unbeugsam setzt sich Heß mit seiner Vergangenheit auseinander, personifiziert in seinem jungen Wiedergänger Alfred Horn, der ihm in der Zelle auf den Leib rückt. (Horn war sein Deckname während des Flugs nach Schottland.)

Salvatores Stück, aber auch sein Heß sind abstrakte Konstruktionen. Heß, der Nazi unter uns, von dem wir eigentlich nichts (mehr) wissen, verkörpert die Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit. Wie lebt der Nationalsozialismus als Schuld weiter? ist die philosophische Frage, die kaum theatralisches Fleisch bekommt. Salvatore hat eigentlich kein Drama vorgelegt, sondern einen Essay, der historische Fakten mit einem Psychogramm einer historischen Figur zu verweben sucht.

Wie schon sein 1990 ebenfalls in Weimar uraufgeführtes „Stalin“-Stück zeigte, ist er ein kritisch reflektierender politischer Denker mit unglücklicher Liebe zum Theater. Sein Text zu Rudolf Heß ist ein ehrenwert räsonierendes Denkkonstrukt. Vollständig ungestisch, ohne theatralische Wirksamkeit oder ästhetischen Mehrwert.

Wobei die Wahl eines Titelhelden ohne Glanz auch nicht zur dialektischen Schreibvolte wird. Es geht nicht darum, den Täter Heß zu verstehen oder ihn nah an uns heranzurücken. Dieser Heß in Weimar bleibt fremd und unsympathisch. Andreas Weißert gibt ihn als knurrig-halsstarrigen, schwitzig-verklemmten Mann. Weißert ist keineswegs virtuos, seine handwerklich eher schlichten Mittel, ja selbst seine Schwierigkeiten mit seinem Gebiß kommen der Figur zugute. Heß wirkt ungeschlacht und ungestalt.

Spielort ist eine Werkstattbühne des Nationaltheaters Weimar, eingerichtet in einer ehemaligen Autowerkstatt. Ein schäbiger Arbeitsraum ohne Aura, in den Regisseur Henryk Baranowski mit seiner Mitbühnenbildnerin Marianne Custer ein kleines Zellenpodest gestellt hat. Im Hintergrund Wachposten auf einem Emporengang, an der Seite sind einige Fensterflügel in den Raum gehängt, und auf einem Gleis rollt zuweilen eine kleine (einmal in Flammen lodernde) Lore herein.

Der Warschauer Regisseur Baranowski, der in den achtziger Jahren im westlichen Berlin eine eigene freie Truppe leitete und dabei mit atmosphärischen und zudem bilderreichen Inszenierungen auffiel, er tut sich sichtlich schwer mit Salvatores drögem Text. Eher hilflos sucht er das auf mehrere Personen aufgeteilte, aber eigentlich ein Monolog bleibende Stück mit Atmosphäre zu beleben. Das bleibt allerdings Illustration: Da schmückt NS-Jungvolk einen Weihnachtsbaum mit Menschenhaar und Brillen, da fahren zum Schluß gar Hitler und Eva Braun schlafend auf einem Sofa herein – und natürlich erklingt ständig Zarah Leander...

Der Handwerker, der das Gefängnis so überaus symbolhaft weiß streicht, ist bei Salvatore eine Figur, an der der Autor den heutigen, aus Unbefangenheit und Unkenntnis resultierenden Umgang mit Heß demonstrieren kann. Bei Baranowski wird er zu einem Neonazi mit Kühnen-Gruß. Im Erinnerungsspiel von Heß bleibt er aber zugleich der (von Heß wohl auch heimlich homoerotisch umworbene) Freund Albrecht Haushofer, der später als Mitglied der Widerstandsbewegung vom 20. Juli hingerichtet wird. Die Aufführung schleppt sich so dahin, Gaston Salvatores beharrliche Geschichtsbefragung mit einer beharrlichen Figur bleibt konstruierter Lesetext.