Die junge Braut trägt Schwarz

Die knapp 18jährige Camilla führt das Leben einer Witwe. Ihr Verlobter, der bei der Camorra war, wurde von einer konkurrierenden Gruppe erschossen. Nun denkt sie über die Möglichkeit der Rache nach  ■ Aus Neapel Werner Raith

„Nein, nein“, sagt Camilla und hält sich die Hände vors Gesicht. „Ich möchte nicht, daß Sie mich fotografieren. Nicht so, wie ich jetzt bin. Oder eigentlich überhaupt nicht.“ Sie sagt es ohne Eitelkeit, auch ohne Ärger, aber sehr bestimmt, zupft ihr schwarzes Kopftuch ein wenig tiefer in die Stirn, setzt sich auf den einfachen Küchenstuhl und beginnt, Zwiebel zu schneiden. „Für mich gibt es kein ,schön‘ und kein ,häßlich‘ mehr“, erläutert sie dabei, „das ist vorbei.“ So, als läge die Zeit ihrer jugendlichen Blüte viele Jahrzehnte zurück. Sie dreht sich ein wenig um, schaut auf die Kredenz zu dem Foto des jungen Mannes, über dessen rechte obere Ecke eine schmale schwarze Banderole geklebt ist, und wischt sich kurz über die Augen.

Camilla ist 18, nein, noch nicht ganz, Ende Mai wird sie es, aber sie sieht derzeit fast älter aus als ihre Mutter. Seit vier Monaten fühlt Camilla sich tatsächlich wie ihre Mutter – als Witwe. Camilla war nicht verheiratet, „aber was bedeutet das schon“, verlobt war sie mit Carmelo, einem gleichaltrigen jungen Mann, der mitten in Neapels Vorort Secondigliano erschossen wurde, als er gerade von der Arbeit heimkam. Und da die Verlobung damals, vor vier Jahren – beide waren gerade mal dreizehneinhalb – „in casa“ zelebriert wurde, also unter Anwesenheit der Verwandten beider Familien, gilt sie schon fast als eine Ehe.

Camilla trägt seither das Schwarz der Witwen. Und sie ist fest davon überzeugt, daß sie ihre Zukunft eigentlich schon hinter sich hat, trotz ihrer Jugend. Carmelo, das war die Zukunft, auf sie haben beide Familien gebaut, die Camillas und die des jungen Mannes; auch wenn dieser der jüngste von vier Brüdern war. Aber er galt als der wendigste, der intelligenteste, vielleicht auch als der machtbewußtere. Wahrscheinlich haben sie deshalb gerade ihn erschossen und nicht einen der älteren Brüder. Dem ungeschriebenen Camorra- Kodex nach wären zwar auch die anderen drei für einen „Ausgleich der Konten“, wie die gegenseitige Rache konkurrierender Clans heißt, in Frage gekommen. Aber man wollte wohl den meistversprechenden Sproß der Familie umbringen und den Vater Carmelos seiner wichtigsten Stütze beim Zigarettenschmuggel und beim Schutzgeldeintreiben im Hafenviertel Neapels berauben. Meint jedenfalls die Polizei.

Daß ihr Liebster ein Camorrist war und nach Ansicht der Polizei schon ziemlich viele Straftaten auf dem Gewissen hatte, berührt Camilla überhaupt nicht. „Er war ein guter Junge, ein wunderbarer Bursche, einer, der alles konnte und der für alles gesorgt hat.“ Fünf Kinder wollten sie miteinander haben und ein Haus in den Bergen und eines am Meer, außerhalb der verseuchten Bucht Neapels. Wenn er ab und zu mal „zugehauen hat, dann mußte er das wohl tun, sonst respektiert einen hier niemand“.

Nun ist jedenfalls alles aus. Camillas Augen füllen sich immer wieder mit Tränen, aber sie weint nicht los, sie tupft sich nur die Backen ab, an denen Schminke herunterläuft. „Nun habe ich nicht einmal eine einzige Liebesnacht mit ihm gehabt“, sagt sie fast tonlos. Die Mutter tätschelt ihr den Kopf: „Ja, ja“, sagt sie, „Carmelo hat Camilla immer respektiert. Schließlich wollte er sie heiraten.“

Armando kommt nach Hause, Camillas Bruder. Er hat einen Stand auf dem Grünen Markt und ist daher schon seit drei Uhr morgens unterwegs. Er ist müde und wird bald in sein Zimmer verschwinden, bevor er am Abend mit seinen Freunden in die Bar centrale zum Billardspielen geht. „Carmelo“, sagt er, „gehörte irgendwie schon zu uns. Jetzt liegt alles in Stücken.“ Wenig später, als Camilla und ihre Mutter draußen in der Küche Fleisch für die Spaghettisoße bruzzeln, erzählt er weiter: „Mit Carmelo konnte man alles machen, er stand immer zu einem, er hätte es wirklich mal weit bringen können. Ein richtiger Capo.“ Das Wort steht für Anführer, für Chef, aber auch für Boß. „Er wußte, wie man mit Leuten umgeht“, sagt er und nach einer Pause, „auch mit Frauen.“

Halt, war da nicht der große Respekt vor Camilla? Armando blickt erstaunt auf: „Na, also ab und zu waren wir auch mal bei einer Nutte, das war doch ganz klar.“ Und Camilla? „Sie wußte das.“ Und hatte nichts dagegen? „Weiß ich nicht. Aber derlei ist doch ganz normal. Einmal, als ihr eine Freundin erzählte, sie habe Carmelo mit einer Prostituierten am Arm gesehen, da hat sie geweint“ – aber das hat Carmelos Vater ganz schnell gelöst: ,Du kannst jeden Tag in den Puff gehen‘, hat er zu Carmelo gesagt, ,aber laß dich niemals wieder mit einer in der Öffentlichkeit sehen. Denn damit erniedrigst du deine Verlobte.‘ Und das hat Carmelo kapiert.“

Die beiden Frauen kommen wieder zurück. Camilla beauftragt die Mutter, noch einige Gewürze herbeizuschaffen: Seit dem Mord geht sie nicht mehr aus dem Haus, besucht auch nicht mehr wie vorher die Handelsschule. Wie lange sie diese Trauer weiterleben wird, weiß sie selbst nicht: „Kann denn die Trauer um den geliebten Menschen irgendwann aufhören?“ fragt die Mutter.

Daß Carmelo umgebracht wurde, sieht die Familie wie eine Art Unfall, nichts weiter, „da muß man sich reinschicken“, Hadern habe keinen Sinn. Doch dann richtet sich Camilla plötzlich auf: „Wenn ich eines Tages wieder auf die Straße hinausgehen sollte“, sagt sie, „dann werden einige Leute weiche Knie kriegen.“ Armando nickt, steht auf und verzieht sich; offenbar sieht er das, was Camilla sagt, als selbstverständlich an, weiterer Erklärungen nicht bedürftig. „Ich werde es machen wie Pupetta“, sagt Camilla. Ihre Mutter hält einen Augenblick beim Karottenraspeln inne: Sie will sehen, ob ich die Bedeutung dieser Worte verstehe.

Natürlich verstehe ich sie. Pupetta Maresca hatte in den fünfziger Jahren ein ähnliches Schicksal wie Camilla: Ihr wurde ebenfalls der Verlobte weggeschossen, als sie gerade knapp 18 war. Mit dem Unterschied allerdings, daß Pupetta zu diesem Zeitpunkt im vierten Monat schwanger war. Die junge Frau trauerte einige Wochen, nahm dann eine Pistole und erschoß den Mann, den sie für den Mörder ihres Verlobten hielt, auf offener Straße. Als der Prozeß gegen sie lief, demonstrierten Tausende Neapolitaner vor dem Gerichtsgebäude für sie und riefen: „Corraggio, Pupetta!“ – nur Mut, Pupetta! Sie bekam zehn Jahre Gefängnis, und als sie wieder frei war, machte sie sich daran, jenen Clan, aus dem der Mörder stammte, mit Hilfe einer eigenen Gang kleinzuschießen. Ihre aus Weggefährten ihres Verlobten zusammengesetzte „Nuova famiglia“ beendete die bis dahin unumschränkte Hegemonie der „Nuova Camorra Organizzata“ des legendären Raffaele Cutolo.

Will Camilla eine zweite Pupetta werden? Sie weiß es nicht oder noch nicht, allerdings wird sie, wenn sie Rache übt, „etwas genauer als Pupetta hinschauen, um den Richtigen zu erwischen“ – die hatte, wie mittlerweile feststeht, den Falschen abgeknallt. Daß sie ohne weiteres eine Stadtgang führen könnte, bezweifelt weder Camilla noch ihre Mutter; Frauen an der Spitze von Camorra-Banden sind nichts Ungewöhnliches, seit dem vorigen Jahrhundert sind solche Fälle reichlich bekannt – im Gegensatz zur männerbündlerischen sizilianischen Mafia, die erst in den allerletzten Jahren ab und zu auch Frauen wichtige Aufgaben überträgt, weil die Polizei den Bossen immer mehr wichtige Mitarbeiter wegverhaftet.

Ist der Weg in eine kriminelle Karriere für Camilla damit ebenfalls vorgezeichnet? Durchaus möglich, Camilla ist das gleich. Eine Freundin Camillas, deren Freund ebenfalls einem Anschlag gegnerischer Gangster zum Opfer gefallen ist, hat den Weg des Ausstiegs gewählt: Sie hat allen Freunden und Verwandten einen heiligen Eid geschworen, daß sie nichts verraten wird, was sie über die Aktivitäten ihres Verlobten mitbekommen hat, ist nach Norditalien gezogen und lebt seither in wechselnden Wohngemeinschaften von Hausbesetzern in Mailand oder Turin. Camilla achtet das, aber eine Perspektive für sich sieht sie darin derzeit noch nicht: „Zumindest sollen die Gangster, die Carmelo hingerichtet haben, noch viele Jahre damit rechnen müssen, daß ich auf sie zukomme.“

Gegen Abend kommt Ermete vorbei, der einzige der Brüder Carmelos, der sich noch hier sehen läßt. Daß die anderen aus der Sippe Carmelos nichts von sich hören lassen, wundert die Familie Camilla überhaupt nicht: Schließlich galt die Verbindung der beiden Familien nur für den vorgesehenen Ehebund, und mit dem Tod Carmelos ist sozusagen die Geschäftsgrundlage für diese Gemeinschaft weggefallen. Doch in den dreieinhalb Jahren, in denen die beiden verlobt waren, hat Ermete einige Geschäfte mit Carmelo begonnen, und da waren auch die Brüder Camillas mit beteiligt. Sein Blick auf Camilla ist wie der auf eine Geschäftsfrau, wenn er ihr in schnellem Dialekt einige Fragen stellt; völlig unklar, ob ihm die schönen dunklen Augen, die leichten Locken in der Stirn unter dem Tuch, auch die graziösen Bewegungen der jungen Frau überhaupt auffallen. Sie ist die Verlobte seines Bruders, und auch wenn dieser tot ist, bleibt sie das; sie existiert für ihn als Frau nicht. Das nimmt Camilla als ganz selbstverständlich. Sie fühlt sich als Witwe, und Witwen heiraten in diesen Kreisen nicht wieder.

Plötzlich setzt sich Camilla abrupt in den Sessel vor dem Fernsehapparat, greift in eine Schublade in der Kommode und zieht ein Fotoalbum heraus. „Ich habe viele Aufnahmen von uns. Obwohl wir eigentlich nicht viel unternommen haben in diesen drei Jahren. Wir dachten ja, daß wir viele Jahrzehnte Zukunft vor uns haben würden.“ Sie zeigt die Bilder: Nicht eines, wo nur die beiden drauf sind, immer steht ein ganzer Schwarm weiterer junger Leute bei ihnen, manchmal auch die Eltern, die Geschwister. Wenn sie an Carmelo denken will, sagt sie, dann holt sie aus ihrer Erinnerung immer jenen Augenblick hervor, in dem er ihr den „fede“ ansteckte, den Verlobungsring. Den trägt sie noch immer. „Und wenn ich seinen Mörder vor mir habe, am Boden liegend, werde ich ihn mit diesen Ring mitten ins Gesicht schlagen“, sagt sie. Für einen Augenblick wird aus dem anmutigen Gesicht der zarten, jungen Frau ein Skulptur des Hasses. Aber sie fängt sich gleich wieder. „Vielleicht aber werde ich nur an ihm vorbeigehen und ihm sagen, daß er es nicht wert ist, umgebracht zu werden, und daß er mir meinen Carmelo nicht wirklich hat wegnehmen können.“

Sie packt das Album wieder weg, dreht ein paarmal an ihrem Verlobungsring, wie um ihn festzuschrauben, und beginnt, den Tisch fürs Abendessen zu decken.