In 62 Jahren auf EU-Niveau

Estland ist als einziges baltisches Land bei der nächsten EU-Erweiterungsrunde dabei. Aber die Bevölkerung ist skeptisch und befürchtet neue Abhängigkeiten  ■ Aus Tallinn Reinhard Wolff

„In fünf bis sechs Jahren“, ist Estlands Chefverhandler mit der EU, Alar Streiman, überzeugt, „werden wir vollwertiges EU-Mitglied sein.“ Als die EU die elf Länder unter die Lupe nahm, die um Mitgliedschaft nachgesucht hatten, war es Estland als einzigem der baltischen Länder gelungen, mit in den Sechserkreis der Auserwählten zu kommen. Die wichtigsten Hausaufgaben, die die EU-Kommission Tallinn aufgab, waren nicht wirtschaflicher Natur: Das Rechtssystem und die Verhältnisse in den Gefängnissen müßten verbessert werden. Der Kampf gegen die Korruption sei zu verstärken, vor allem aber müsse es dem Land gelingen, den Grenzkonflikt mit Rußland zu regeln und seine russischen MitbürgerInnen in die Gesellschaft einzugliedern.

In allen osteuropäischen Beitrittsländern ist die Landwirtschaft der große finanzielle Brocken, der auf die EU zukommt. Nicht so in Estland. Zwar sind noch 14 Prozent der Bevölkerung hauptberuflich in der Landwirtschaft tätig. Doch kommen auf die EU-Kasse keine allzu dicken Subventionszahlungen an die estnische Landwirtschaft zu, denn bei nur 1,6 Millionen Einwohnern halten die sich in absoluten Zahlen gerechnet in Grenzen. Vor allem wenn man das mit Polen mit seinen 25 Millionen Bauern vergleicht. Estland hofft deshalb auf eine Abkürzung nach Brüssel: „Es spielt für die EU eigentlich keine große Rolle, ob wir dabei sind oder nicht. Das kann ganz positiv für uns sein“, meint Alar Streiman.

Wenn auch klein, so ist Estland doch alles andere als unproblematisch für die EU, was deren Verhältnis zu Rußland angeht. Moskau hat die Aussicht auf einen EU-Nachbarn Estland zwar ohne Drohgebärden akzeptiert. Gleichzeitig aber hat die russische Regierung klargemacht, daß es zu der von Brüssel verlangten Normalisierung der Beziehungen an der russisch-estnischen Grenze und dem Abschluß eines Grenzvertrags nur kommen wird, wenn das Problem der in Estland lebenden russischen Minderheit gelöst wird. Doch trotz vorsichtiger Lockerungen sind die Mitbürgerschaftsgesetze weiter diskriminierend. Ein Knackpunkt ist auch die ökonomische Vernachlässigung der Siedlungsgebiete mit mehrheitlich russischer Bevölkerung.

Kann Tallinn mittlerweile mit einem Flair und einem Warenangebot glänzen, das sich kaum noch von anderen nordischen Hauptstädten wie Helsinki oder Stockholm unterscheidet, sieht es im restlichen Land ohenhin ganz anders aus. Sobald man die Vororte der Hauptstadt hinter sich gelassen hat, fühlt man sich in vergangene Sowjetzeiten zurückversetzt. Außer in der Hauptstadtregion hat es kaum ausländische Kapitalinvestitionen gegeben, und der „russische“ Nordosten des Landes ist offenbar noch ein Stück mehr vernachlässigt worden, was öffentliche Investitionen angeht.

Estland kann sich allerdings mit glänzenden Zahlen hervortun, was die Wirtschaftsentwicklung betrifft. Längst vergessen die Zeiten des ersten Selbständigkeitswinters 1991, als die Bevölkerung stundenlang für ein Stück Brot Schlange stehen mußte und in ausgekühlten Wohnungen fror, weil die Regierung kein Geld hatte, das russische Erdgas zu bezahlen. Der Handel hat sich rekordschnell umorientiert. War er 1991 noch zu 97 Prozent Teil der Sowjetwirtschaft, sind heute 75 Prozent westorientiert. Die estnische Krone ist fest an die D-Mark gekoppelt. Das Bruttoinlandsprodukt stieg im vergangenen Jahr um über 4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei unrealistischen 2 bis 3 Prozent, tatsächlich aber auch bei nicht mehr als 10 Prozent.

Doch die Prozentrechnungen trügen. In absoluten Zahlen ist Estland ein bitterarmes Land. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung liegt bei 22 Prozent des EU-Durchschnitts. Beim jetzigen Tempo des Wirtschaftswachstums würde es 62 Jahre dauern, bis man das dann erwartete durchschnittliche EU-Niveau eingeholt hätte. Ein Durchschnittslohn in der Industrie beträgt 600 Mark monatlich, während das Preisniveau für Lebensmittel bei etwa der Hälfte des bundesdeutschen liegt. Rätselhaft, wie die RentnerInnen mit im Schnitt 120 Mark über die Runden kommen.

Die Regierung tut sich indessen schwer damit, zu begründen, welche positiven wirtschaftlichen Effekte eigentlich eine schutzlos dem EU-Markt ausgesetzte estnische Ökonomie erwarten könnte. Den Bauern verspricht man, daß Europa nur begierig darauf warte, die guten estnischen Würste und Schinken für teures Geld zu kaufen. Was das Abenteuer EU Estland unter dem Strich kosten würde, hat man nicht einmal ungefähr ausgerechnet und hebt statt dessen lieber die positiven politischen Folgen einer EU-Mitgliedschaft hervor. Die EU wird ganz einfach als Sicherheitsgarantie gen Osten angesehen, nachdem eine Nato-Mitgliedschaft erst einmal in weite Ferne gerückt ist.

So ungebrochen enthusiastisch sich die Regierung trotz aller Probleme gibt, die Skepsis in der Bevölkerung gegenüber Brüssel ist eher gewachsen. Nach neuesten Meinungsumfragen stützen nicht mehr als 23 Prozent eine EU-Mitgliedschaft. Andrus Saar vom Demoskopischen Institut Saar Pool: „Die hauptsächlichen Argumente für die negative Haltung wiederholen sich. Es sind die negativen Erfahrungen mit der Sowjetunion: Erst haben wir uns Unabhängigkeit erkämpft, und jetzt sollen wir wieder Souveränität an eine Union abgeben?“

Die Regierung plant eine Volksabstimmung zur Frage einer EU-Mitgliedschaft. Leistet man nicht noch massive Aufklärungsarbeit, könnte diese mit einer unangenehmen Überraschung für die PolitikerInnen enden.