"Nur beim Fußball steh' ich rechts"

■ Seit heute ist er 75 Jahre alt: der Psychoanalytiker und Konfliktforscher Horst-Eberhard Richter. Ein Halbzeit-Gespräch über Konflikte in seiner Kindheit, den Hertha BSC und andere drängende Fragen der

Ein Interview von Klaus Farin

taz: Wie geht es Ihnen heute – angesichts der aktuellen Entwicklung bei Hertha BSC?

Horst-Eberhard Richter: Mir geht es gut, trotz der 20. Krise in der Führungsetage von Hertha. Das kenne ich ja seit Jahrzehnten. Das stärkste Hindernis für den sportlichen Erfolg der Mannschaft ist nicht deren eigenes Können auf dem Rasen, sondern die Vereinsführung auf den Rängen. Aber es sieht ja so aus, als sei der Verein der Abstiegsgefahr gerade noch entronnen.

Eine Frage an den Psychoanalytiker: Wenn einer so lange Hertha-Fan bleibt wie Sie, trotz all der Intrigen, Skandale und Pleiten, gehört da nicht eine gehörige Portion Realitätsverlust dazu?

Sie kennen eben nicht mehr die alte Hertha vom Gesundbrunnen, von der Plumpe. Sie waren nicht dabei, wenn die Hertha damals mal wieder knapp in Führung lag und dann den Ball einfach hoch auf die S-Bahn geschossen hat, um ein paar Minuten herauszuschlagen – denn es gab ja nur einen Ball, nicht ein Dutzend wie heute. Ich kenne noch alle Namen der Spieler von damals. Es gibt Mythen aus der Kindheit, die sind unzerstörbar.

Sie haben auch selbst gespielt?

Ja, und mit Leidenschaft. Damals hatten wir eine Wohnung dicht am Kurfürstendamm, aber ein paar hundert Meter weiter war eine soziologische Grenze, und da war ein Sandplatz, wo wir Jungen bolzten und uns auch gelegentlich kloppten. Ich wäre auch gerne in einen Fußballverein gegangen, aber meine Mutter fand das zu ordinär und hatte Angst, daß ich mir die Knochen zerschlagen lasse, nachdem ich oft genug mit blutigen Knien und geschwollenen Knöcheln nach Hause gekommen war. Und so durfte ich nur in einem Verein Tennis spielen. Aber ich habe natürlich nach wie vor Fußball gespielt. Ich bin noch heute technisch gar nicht so schlecht, weil ich das eben von Kindheit an gelernt habe. Aber ich muß zugeben, mein Ehrgeiz war immer sehr viel größer als mein Können.

Sie spielen heute noch?

Ja, jeden Freitag von fünf bis halb sieben in einer Hallenmannschaft, die seit 25 Jahren zusammen ist.

Auf welcher Position spielen Sie bevorzugt?

Im Gegensatz zu meiner politischen Orientierung komme ich beim Fußball gerne von rechts.

Und entgegen Ihrer pazifistischen Gesinnung haben Sie sich früher auch gerne geprügelt? Horst-Eberhard Richter – ein früher Hooligan?

Ich habe als Junge gerne gerungen, weil ich darin einigermaßen geschickt war, aber das waren keine Keilereien. Natürlich gab es auch früher schon Fans, die eine Bierflasche nach der anderen leerten und entsprechend immer lautstarker herumgrölten und auch mal versuchten, an den Schiedsrichter heranzukommen, um ihm nicht nur verbal ihr Mißfallen mitzuteilen. Übereifrige Fan-Leidenschaften sind für mich also nichts Neues. Aber die heutige Hooligan- Szene verstehe ich offen gestanden nicht genügend. Wäre ich noch jünger, würde ich mich vielleicht noch einmal in die Szene hineinbegeben, um sie zu erforschen. Aber das können jetzt andere besser. Es scheint mir, daß chauvinistische und ausländerfeindliche Parolen in den Stadien seltener geworden sind, seitdem einige der besten deutschen Spieler für Marseille oder Tottenham kämpfen und deutsche Vereine von der Eleganz und technischen Brillanz der Spielkünstler aus Brasilien und Ghana zehren.

Sportfunktionäre loben ja gerne die Vorbildfunktion des Fußballs.

Die Fußballwelt ist kein Vorbild, aber ein Abbild der Gesellschaft – und vielleicht sogar ein heilsam erhellendes. Hier bleibt nichts von dem verborgen, was im Alltag unter der Decke gehalten wird, und in diesem Sinne geht es ehrlicher zu als im mörderischen Dschungel des Business as usual.

Bei Sportlern sieht man wenigstens auf dem Leibchen, für wen sie werben. Bei unseren Bonner Abgeordneten weiß nur die Präsidentin, mit welchen Verträgen viele von denen an die Wirtschaft gebunden sind. Natürlich spiegelt sich auch im Fußball unser ökonomisches System wider. Reiche Vereine kaufen ärmeren die besten Spieler weg, gar nicht mal, um sie für sich einzusetzen, sondern um die Rivalen zu schwächen. Bei den Bayern sitzen die dann die ganze Saison nur auf der Ersatzbank. Deshalb zittern momentan Millionen von Fußballfans für die Kaiserslauterer, als würde deren Meisterschaft eine Bresche in das herrschende System schlagen, das einer Wohlstandsmehrheit das ewige Siegen garantiert. Auch ich hoffe auf Kaiserslautern. Solche Tröstungen können viele in einer Zeit gebrauchen, in der sie für sich und ihre Nachkommen keine großen Chancen voraussehen.

Heute wächst eine Generation heran, der man in der vitalsten Phase ihres Lebens sagt, daß man sie eigentlich nicht braucht, und die sich selbst nicht zutraut, Not und Unfreiheit in einem großen Aufbruch bekämpfen zu können. Denn die Kraft, sich zu wehren, benötigt Zuversicht. Verzagtheit kann eine negative Spirale in Gang setzen, nämlich unwillkürlich die Herbeiführung dessen begünstigen, was man befürchtet. Ich sehe die Gefahr einer Selbstlähmung, wenn sich die Ohnmacht gegenüber der Eigendynamik des Marktes verstärkt, zumal in Verbindung mit der technologischen Revolution, während gleichzeitig der notwendige Druck von unten ausbleibt, um in die Strukturen verändernd einzudringen.

Vielleicht ist das heute gerade politisch, sich den politischen Strukturen zu verweigern?

Sicherlich hat zum Beispiel die massenhafte Wahl von Guildo Horn durch junge Leute die Hohlheit des Schlagerbetriebs besser entlarvt als grimmige Empörung. Es könnte sein, daß Sie recht haben; ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es nur an meinem Alter, meiner eigenen, sehr politischen Sozialisation, aber ich glaube, daß ein rein individualisiertes Verhalten ohne strukturelles politisches Engagement die Zwänge und Bedrohlichkeit dieses mächtigen Bündnisses von Ökonomie und Technik nicht aufheben kann, wenn es nicht in ein großes Handlungspotential umschlägt.

Wird ab dem 27. September alles anders?

Als Sozialpsychologe kann ich nur feststellen, daß jede Bevölkerung nur die Politiker bekommt, die sie verdient, daß Politiker also auch gewisse regressive, primitive Entwicklungen der Gesellschaft widerspiegeln. Wenn Sie morgen operiert werden sollen und zwischen zwei Chirurgen wählen können: einem, der Ihnen sagt, ich gebe mir alle Mühe, kann Ihnen aber nichts versprechen, und einem anderen, der Ihnen sagt, keine Sorge, ich kriege das alles hin – für wen entscheiden Sie sich?

In Zeiten wachsender Unsicherheit wächst auch das Bedürfnis, Verantwortung an eine Person zu delegieren, die durch ihre enorme Selbstsicherheit dazu einlädt. Diese infantile Autoritätsergebenheit ist in Deutschland sehr eingeübt, und sie verstärkt sich noch in Zeiten von Krise und Pessimismus. Ändern können das nur breite Gegenströmungen von unten.

Sehen Sie die heute?

Hans Jonas hat gesagt, die heutige Lage sei zum Fürchten. Er hat sogar von einer „ethischen Pflicht zur Furcht“ gesprochen, aber eine solche Furcht gemeint, die zum Handeln aufrüttelt. Die Furcht vor einer Zerstörung der Zukunft sollte dazu nötigen, sich in der eigenen Lebensform umzustellen und sich gemeinsam für entsprechende Reformen zu engagieren. Wenn Sie mich direkt fragen, ob ich solch eine Aufbruchstimmung sehe, so kann ich nicht viel vorbringen, so sehr ich sie auch sehen möchte. Aber immerhin wachsen überall kritische Bedenken. Studien bei Schulkindern zeigen, daß zumindest bei ihnen die von Hans Jonas gewünschte Furcht in dem Sinn schon verbreitet ist, daß sie von ihren Eltern mehr soziale und vor allem ökologische Verantwortlichkeit verlangen.

Daß Kinder und Jugendliche gerne radikale Humanisten, Tierrechtler, Vegetarier und Umweltschützer sind, ist ja nichts Neues. Das Problem scheint mir aber eher zu sein: Wie erreicht und verändert man die Eliten?

Seit sechs Jahren treffe ich am abgelegenen Ort nicht öffentlich regelmäßig etwa 15 Leute, die in Politik und Wirtschaft viel zu sagen haben und unterschiedliche Richtungen vertreten; dazu kommen ein paar bekannte Personen aus Literatur, Kirche und Wissenschaft. Die Teilnehmer meinen, daß sie bei diesem nachdenklichen Austausch einiges Wichtige voneinander und für die eigene Handlungsorientierung lernen.

Ohne Ihr Engagement mindern zu wollen, aber solange ein Großteil Ihrer Kollegen vorzugsweise daran arbeitet, die Kräfte angeschlagener Manager und Politiker zu regenerieren, bleibt es doch letztlich ein Tropfen auf dem heißen Stein?

Manchmal zieht eine Initiative größere Kreise, obwohl oder gerade weil man anfangs gedacht hat, nur eine ganz kleine Sache zu machen. Aber ich bin kein Drewermann oder andere, die einen Heilsweg anzubieten haben. Mein Talent liegt eher darin, Menschen, die schon beunruhigt sind, zu helfen, wie sie ihre Unruhe gemeinsam mit anderen in Aktivitäten umsetzen können. Aber es ist richtig: Die Wirkung jedes einzelnen hängt immer davon ab, ob er in einer breiten Bewegung schwimmen kann, die dann überhaupt erst zu einem politischen Faktor wird. Und da sehe ich derzeit leider nur einzelne Lichterfunken.

Zum Weiterlesen: Trin Haland- Wirth/ Norbert Spangenberg/ Hans-Jürgen Wirth (Hg.): „Unbequem und engagiert. Horst-Eberhard Richter zum 75. Geburtstag“. Psychosozial-Verlag, Gießen 1998, 568 Seiten