Boxen oder Untergehen

■ Wenn sich die Rumhäng-Territorien überschneiden: In „TwentyFourSeven“, dem Schwarzweißdebüt von Shane Meadows, steigen arbeitslose Kids – widerwillig – in den Ring

Ein Forschungsprojekt der Berliner TU widmet sich der Erstellung eines Gebärdenlexikons. Der Stinkefinger zum Beispiel existierte schon etwa 400 Jahre vor Christus. Damals wies Diogenes in seiner Tonne Fragenden den Weg zum Demagogen mittels des erhobenen Mittelfingers. Merkwürdigerweise verschwand das Zeichen dann vor einigen Jahrhunderten, als die Ärzte angewiesen wurden, Patienten mit dem Ringfinger an dunkleren Körperstellen zu untersuchen. In den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts tauchte der Stinkefinger als kultureller Code unvermittelt wieder auf. Die Forscher rätseln bislang, wie er die Jahrhunderte seiner Abstinenz überstand. Vielleicht müßten die Wissenschaftler einfach mal in der Arbeiterkultur good old Englands recherchieren. Jede Menge unflätige Wörter jedenfalls scheinen hier ein stabiles Zuhause gefunden zu haben.

„TwentyFourSeven“ – 24 Stunden am Tag, die ganze Woche – handelt von zwei Jugendgangs, lads, die sich nicht so besonders gut verstehen und sich vorzugsweise dumm anmachen, wenn sich ihre Rumhäng-Territorien überschneiden. Alan Darcy, wunderbar unspektakulär mit Wollmütze gespielt von Bob Hoskins, ist Sozialarbeiter. Als Darcy die verfeindeten lads in seinem Örtchen beim Trainspotting beobachtet, wird er ganz sentimental. Denn früher, ohne explosive Jugendarbeitslosigkeit, hatte keiner Zeit, Telefonzellen von der Seite anzumachen. Und während sich die Arbeitslosen in „The Full Monty“ dem selbstorganisierten Männerstrip verschreiben, muß Darcy die Boys förmlich in den Ring prügeln, damit sie pünktlich zum Boxtraining erscheinen. Nicht ganz leicht, über seinen Schatten zu springen wie einst Champion Muhammad Ali übers Springseil.

Der britische Regisseur Shane Meadows suchte sich für seine BBC-Coproduktion, für die er auch das Buch mitschrieb, einen Haufen unverbrauchte junge Leute. Einige von ihnen hatten bis dato nur auf der Straße geschauspielt, Karl Collins und James Hooton einige Fernsehfilme gedreht. Meadows selbst drehte mit „TwentyFourSeven“ seinen ersten Langfilm. Man entschied sich, auf Farbe zu verzichten. Das Schwarzweiße wirkt denn auch weniger prätentiös, als der schlichten Working- class-Antihelden-Story angemessen. Meadows kennt sein Sujet: „Ich habe ,TwentyFourSeven‘ für Leute wie Alan Darcy und ähnliche Charaktere gemacht, die ich kannte, als ich aufwuchs.“

Darcys Boxer bereiten sich auf einen Kampf vor, der sie wie bei einer Klassenfahrt endlich mal raus aus dem eigenen Nest führt. Bei dem Kampf aber kommt es zum Showdown – leider außerhalb des Rings. Der sanfte Darcy wird plötzlich zum gemeingefährlichen Sozialarbeiterzombie. Als die Jungs später merken, daß ihr Boxclub einer Shopping Mall weichen soll, wehren sie sich ein letztes Mal. Seine manchmal ins Sozialkitschige abrutschende Story verzeiht man „TwentyFourSeven“ wegen der klasse Schauspieler fast vollständig. Im Original ohne Untertitel nur verständlich für Native Speakers, die auch verbale Stinkefinger decodieren. Andreas Becker

„TwentyFourSeven“. Regie: Shane Meadows. Mit Bob Hoskins u.a. GB 1997, 97 Min.