„...sonst kommt die Frau B.!“

Die Mutter wohnt nicht in der Nachbarschaft. Und ist gebrechlich. Braucht Hilfe. Bei allem. Täglich, rund um die Uhr. Die Tochter kann und will sie nicht bei sich aufnehmen. Deshalb sucht sie den Beistand eines Pflegedienstes. Und wird ihres Lebens nicht mehr froh, geplagt von schlechtem Gewissen und dem Gefühl, daß ihre Mutter von den Pflegekräften unkundig und lieblos behandelt wird. Eine Reportage  ■ von Silvana Richter

Schluß! Aus! Das wird mir alles zuviel. Wenigstens die Scheiße könnte sie selber von der Klobrille wischen.

Aber du mußt ihr helfen! Sie ist 83 Jahre, allein und lebensmüde. Sie braucht dich. Und überhaupt: Es ist deine Mutter!

Ha, meine innere Stimme! Die hat mal wieder gut reden. Und woher soll ich die Zeit für den Gute-Tochter-Job nehmen? Allein die Fahrt jedesmal bis in dieses Nest auf der anderen Rheinseite bei Bonn, anderthalb Stunden bei freier Autobahn... Nein, das geht nur noch mit fachkräftiger Unterstützung. Ich besorge mir die Nummer eines Wohlfahrtsverbandes.

„Haushaltshilfe? Kein Problem“, zwitschert mir Frau B. in den Hörer und kommt sofort vorbei. Sie kann gar nicht verstehen, warum unser Antrag auf Leistungen aus der Pflegeversicherung abgelehnt wurde.

„Neu stellen!“ rät sie mir und gibt sich zuversichtlich. „Wenn die sehen, daß da schon ein Pflegedienst drin ist, stimmen die dem Antrag in der Regel zu.“

Sie hat recht.

Siehst du, alles ganz einfach, sagt meine innere Stimme. Und Frau B. nickt, als ich mit ihr vereinbare, zusätzlich zum Putzen nun meine Mutter auch jeden Morgen anzuziehen, zweimal in der Woche zu baden und die urinnasse Bettwäsche zu wechseln.

Sie beantragt bei der Pflegekasse einen Nachtstuhl. Ein Pflegebett und ein Badewannenlifter folgen.

Aber wozu die ärztliche Verordnung zur täglichen Wundversorgung?

Sie beruhigt mich: „Kleiner Trick. Da bekommen wir zusätzlich Geld von der Krankenkasse, so daß wir mehr Zeit für Ihre Mutter haben.“

Aha, so läuft das also! Meine innere Stimme zieht sich für ein Nickerchen die Decke über die Ohren. Bis sie meine Mutter plötzlich am Telefon sagen hört:

„Frau B. hat mich geschlagen!“

Nein, bleib liegen, befehle ich mir. Man kann Mutter nicht alles glauben.

Und wenn's stimmt?

Innere Stimmen können ganz schön nervig sein. Ich schleiche mich also unangekündigt ins Haus meiner Mutter. Um neun Uhr höre ich die Putzhilfe ins Schlafzimmer gehen.

„Frau M., aufstehen!“

Meine Mutter brummt unzufrieden. Sie schläft gerne lang.

„...sonst kommt die Frau B.!“

Ich schnappe im Nebenzimmer nach Luft. Der Gehstock meiner Mutter pocht ins Badezimmer, kurz darauf klatscht die Haustür hinter der Putzfrau ins Schloß. Sie hat das Bett bezogen, die Schmutzwäsche in die Maschine gesteckt und drei Teller gespült.

In der Pflegemappe finde ich für ihren fünfzehnminütigen Aufenthalt den Eintrag „Große hauswirtschaftliche Versorgung“. Kosten: rund 63 Mark.

Als Geld aus dem Portemonnaie meiner Mutter verschwindet, schließe ich alle Wertsachen weg und fange an, mir Notizen zu machen: heute wieder keiner gekommen, selber fünf Ladungen Wäsche gewaschen; ständig neue Gesichter; Rolladen im Schlafzimmer abgerissen, keiner informiert mich...

Doch dann kommt ein Anruf. Frau B. teilt mir mit, daß die Fensterscheibe im Badezimmer kaputt sei. Ich bemängele bei der Gelegenheit die schmutzigen Toiletten.

„Pflege geht vor“, erwidert Frau B., „und wenn Ihre Mutter Sonderwünsche wie Rückenwaschen hat, bleibt nun mal weniger Zeit fürs Putzen.“ Und nach einer kurzen Pause setzt sie hinzu: „Gestern haben aber zwei Leute saubergemacht, sogar die Fenster! Das mit der Scheibe können wir uns auch nicht erklären!“

Merkwürdiger Zufall, sagt meine innere Stimme, während ich losfahre, um mich 130 Kilometer weiter um den Glaser zu kümmern. Und wo kommt auf einmal die Zeit fürs Fensterputzen her?

Zwei Stunden später rufe ich statt des Glasers den Notarzt. Bei meiner Ankunft hatte ich meine Mutter auf dem Küchenboden gefunden. Schwindelanfall.

Daß an diesem Tag keine Pflegerin erschienen war, erklärt mir Frau B. mit dem verstörten Zustand meiner Mutter am Vortag. Die sei – nachdem sie die zerbrochene Scheibe entdeckt habe – dermaßen in Angst gewesen, daß man statt am nächsten Morgen erst abends hatte kommen wollen.

Komische Logik, sagt mein innerer Quälgeist. Ich spreche zum wiederholten Male mit der Kasse.

„Sie können ja den Pflegedienst wechseln“, rät man mir dort. Bloß, wie komme ich in meinem Wohnort an die Adressen? Die Liste, die mir die Kasse zuschickt, stellt sich als unbrauchbar heraus. Sie enthält von achtzehn Pflegediensten lediglich einen, dessen Einzugsbereich das Dorf meiner Mutter mit einschließt.

„Nein, was anderes haben wir auch nicht“, bekomme ich von der Kasse auf meine Nachfrage zu hören.

Ich stiefele also bei mir zu Hause zur Post und lasse mir die Gelben Seiten der dörflichen Region geben. Zufällig gerate ich nach einigen Anrufen an eine Vermittlungs- und Beratungsstelle für Pflege. Die Frau sucht im Computer die Einrichtungen heraus, die zur Zeit freie Kapazitäten haben und checkt für mich sogar noch telefonisch deren Einzugsbereich. Ich entscheide mich für einen privaten Pflegedienst.

Nach vier Wochen Krankenhaus ist meine Mutter völlig apathisch geworden.

„Wenn sich bei der Patientin durch den Sturz vorübergehend der Pflegebedarf erhöht, kann der Arzt eine häusliche Krankenpflege verordnen“, teilt mir der Sachbearbeiter der Kasse mit.

Der Arzt verschreibt eine Grundpflege. Schwester N. übernimmt den Dienst. Meine innere Stimme legt die Füße hoch. Nicht lange. Dann ist die neue Bettdecke meiner Mutter verschwunden. Ich krame das Notizbuch hervor: wieder keiner da, Mutter um halb zwölf noch im Bett, alles naß.

N. behauptet, Mutter habe sich nach der Pflege wieder hingelegt; N. Sie behauptet auch, nichts vom Putzdienst zu wissen, die Pflegeleitung widerspricht; N. behauptet, laut Dienstplan schon um acht Uhr kommen zu müssen, die Pflegeleitung widerspricht erneut; deren Leiterin behauptet, N. arbeite auf eigenen Wunsch sieben Tage die Woche, N. aber behauptet, das wäre so angeordnet...

Sieh endlich nach, was da los ist, drängelt meine innere Stimme. Ach, halt die Klappe! Ich muß arbeiten!

Dann kommt die Rechnung für den ersten Monat: 2.200 Mark! Da hast du den Salat! Innere Stimmen können auch ganz schön rechthaberisch sein. Ich tröste mich damit, daß die Pflegekasse ja noch 750 Mark dazugeben wird und die vom Arzt verordnete Grundpflege die Krankenkasse übernimmt.

Um endlich Ruhe im Kopf zu haben, kontrolliere ich die Eintragungen im Pflegeprotokoll und staune. N. hat für jeden Tag das volle Pflegeprogramm eingetragen, auch wenn sie gar nicht da war. An einem Tag will sie sogar meine Mutter um zehn Uhr abends zu Bett gebracht haben, obwohl die zu dieser Zeit mit mir zusammen noch bei Verwandten auf dem Sofa saß und ich sie anschließend selber gewaschen und ausgezogen habe.

Nun besorge ich mir den Leistungskatalog mit den Vergütungsregelungen und vergleiche die Positionen mit der Rechnung. Sieh an, sieh an: Wäschewaschen ist als gesonderte Leistung abgerechnet, obwohl die große hauswirtschaftliche Versorgung diese Position mit einschließt. Von der Krankenkasse erfahre ich durch Zufall, daß der Pflegedienst auch dort eine Rechnung abgeliefert hat: über 1.600 Mark. Für die ärztlich verschriebene häusliche Krankenpflege, nehme ich an.

„Nein“, sagt die Frau von der Zweigstelle der Kasse an meinem Wohnort, wo ich mich schließlich persönlich informiere. „Die Kosten für die vom Arzt verordnete Grundpflege übernimmt die Krankenkasse nur, wenn der Patient noch keine Leistungen aus der Pflegeversicherung erhält. Das trifft in Ihrem Fall ja nicht zu. Da wird die ärztliche Verordnung automatisch von den 750 Mark aus der Pflegeversicherung bezahlt. Die 2.200 Mark müssen Sie selber zahlen.“

Aber der Kollege hatte doch gesagt... Die Frau hebt bedauernd die Schultern.

Zufällig stoße ich im Bioladen bei mir um die Ecke auf die Telefonnummer einer Pflegefachberatungsstelle.

„Der Pflegedienst hätte Ihnen einen Kostenvoranschlag machen müssen. Die hätten mit Ihnen einen Vertrag abschließen müssen. Außerdem hätten die...“ Hätten! Hätte mir das mal einer vorher gesagt!

Nun reklamiere ich schriftlich die Rechnung, mahne einen Vertrag an, reduziere die Leistungen und fordere dafür eine konkrete Kostenaufstellung. Da keine Reaktion erfolgt, fahre ich persönlich in das Pflegedienstbüro. Ja, man habe Schwester N. schon abgemahnt.

Am gleichen Tag stolpere ich über die Blutdruckmeßwerte im Pflegeprotokoll, eine lange Liste. Aber ich habe Schwester N. noch nie mit einem Meßgerät gesehen. Als ich sie am Abend darauf anspreche und auffordere, in meinem Beisein zu messen, hat sie das Gerät gerade „zufällig“ an eine Freundin verliehen. Dafür mißt sie am nächsten Morgen den Blutzucker. Der Wert, den sie ermittelt, ist lebensbedrohlich niedrig. Ich fahre mit meiner Mutter zum Arzt. Der schüttelt beim ersten Blick auf die Patientin den Kopf.

„Kann nicht stimmen, so schlecht sieht Ihre Mutter nicht aus.“

Schluß! Aus! Ich kündige Ende Februar und schicke einen Beschwerdebrief an die Pflegekasse. Weder die noch die Chefin von N. haben bisher auf die Briefe reagiert.

Frau G. vom neuen Pflegedienst sagt: Ich hab' diesen Verein gegründet, nachdem ich bei meinem Vater mit mehreren Pflegediensten schlechte Erfahrungen gemacht habe. Bei uns läuft das alles anders.“

Meine innere Stimme winkt ab. Die können viel erzählen. Wir werden sehen.

Die Tochter ist die Autorin.