Kommen und gehen

Hoffotograf des Kulturbetriebs: Thomas Struths erste Retrospektive hat in Nimes eröffnet. Sie könnte Folgen für die Kunstakademie Düsseldorf haben  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

An der Düsseldorfer Kunstakademie ist seit mehr als einem Jahr eine Professur vakant, nämlich die von Bernd Becher, der seine eigene Abwesenheit mit Lehraufträgen überbrückt. Er ist also noch da und schon nicht mehr da; wir befinden uns in der Phase des Übergangs, die Zeichen stehen auf Sturm. Denn Bernd Becher, zusammen mit seiner Ehefrau, der Fotografin Hilla Becher, ist ein sehr erfolgreicher deutscher Hochschullehrer. Man spricht von einer Becher-Schule. Aus nordamerikanischer Sicht ist diese Schule nahezu synonym mit deutscher Kunstfotografie.

Es gibt etliche namhafte SchülerInnen (die bekanntesten heißen Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Struth, Andreas Gursky und Thomas Ruff), die zwischen 1976 und 1989 bei Bernd Becher in Düsseldorf studiert haben. Bei fast allen gab es, zumindest phasenweise, ein Interesse für das Deutsche an der westdeutschen Zivilisation: schlichte Mietshäuser, kleinbürgerliche Interieurs, die Freizeit-Peripherien der Städte. Trotz der kühlen Art, die Sujets zu registrieren – bei bedecktem Himmel, keine Figuren, ohne stürzende Linien –, konnte man sicher sein, daß die Fotografie nicht teilnahmslos war. Nicht die Exaktheit der Abbildung, sondern der Grad des Interesses am Motiv, unterscheidet eine künstlerische Fotografie von einer bildjournalistischen oder rein dokumentarischen (der Auftragsfotografie für Landesbildstellen oder Architekturbüros zum Beispiel).

Während Candida Höfer eine Professur auf Zeit in Karlsruhe übernommen hat und Andreas Gurskys Ausstellung für das riesige Kunstmuseum in Wolfsburg in Vorbereitung ist, hat im südfranzösischen Nimes – vom Kunstbetrieb unbemerkt, noch – eine Ausstellung mit Fotografien von Thomas Struth eröffnet. Der begleitende Katalog des Carré d'art trägt den Titel „Still“. Die nächste Station wird das Stedelijk-Museum Amsterdam sein. Dann geht es ins Centre national de la photographie in Paris. Man kann die Schau getrost eine Retrospektive nennen. Sie schließt ein: Stadtlandschaften von Essen bis Tokio, eine Studie der Kulturlandschaft bei Winterthur, Portraits, die „Museum Photographs“ und Bilder von Blüten – Bilder aus zwanzig Jahren.

Die Ausstellung folgt allerdings nicht der Chronologie, denn die frühen Städtebilder mit ihren schlichten Symmetrien sind erst im letzten Raum zu sehen. Einst war Struth für seine menschenleeren Stadtszenerien gelobt worden, als hätte er das Genre aus dem Boden gestampft. Dann aber profilierte er sich, in einem zweiten Anlauf, als Portraitist. Es sind bürgerliche Leute in Köln, Edinburgh und Tokio, Leute mit Bildung und mit Geld. Es gibt einige Bilder, die sprechen: das frühe schwarzweiße Bild einer jungen Frau von ungewöhnlicher Lüsternheit (Bettina Nabbefeld); oder das kuriose Bild eines japanischen Mannes von vielleicht fünfzig Jahren, stehend, und seiner Frau, sitzend, die im aufgeräumten Kunstambiente vor luxuriös nackten Betonwänden aussehen wie Porzellanpuppen (Kyoko und Tomaharu Murakami). Bei den Bildern ganzer Familien alterniert allerdings die dumpfstolze Präsentation von Kleinkindern mit brav um den Patriarchen gebauten Gruppen. Nur die Bilder von Kindern und Jugendlichen atmen ein wenig – sie wirken weniger bestellt.

Die Portraits sind das Sujet, mit dem sich Struth, wenn die „Still“- Ausstellung seine Interessen spiegelt, am meisten beschäftigt hat – allerdings ohne eine sichtbare Entwicklung. Tatsächlich findet Struth im Genre des Portraits sein Thema nicht, sei es die Frage nach nationalem Charakter oder internationaler Charaktere, nach der kompletten oder „individualisierten“ Familie, oder nach dem Alter, nach Eigensinn und Autonomie, nach Armut und Abhängigkeit. Er ist nichts mehr als ein Hoffotograf des Kunstbetriebs – der Kuratoren, Künstlern und Sammlern den Gefallen tut, eingereiht zu werden in... die Becher-Schule.

Da wäscht eine Hand die andere. Richard Sennett hat für Thomas Struth ein Nachwort geschrieben (ein guter Text, zu finden im Katalog „Strangers and Friends“) – in Nimes hängt Sennets Portrait- vor-Kamin in Groß. Und im Westflügel der Ausstellung ist ein Saal für das riesige Portraitbild eines Maler-Königs reserviert, der in seiner eigenen Ausstellung für seinen früheren Schüler posiert, mit einem Anflug von Unbehagen: Gerhard Richter in Madrid, aufgenommen von Struth-Velazquez.

Noch erfolgreicher als die internationale Image-Pflege sind die vornehm „Museum Photographs“ betitelten Bilder. Es sind Interieurs aus allzu bekannten Museen wie dem des Vatikans, dem Louvre, dem Kunsthistorischen Museum in Wien und dem MOMA in New York. Man sieht repräsentative Werke im typischen Kunst-, Tages- oder Restlicht. Endlich ist Struth bei der Technik angekommen, die sein Ex-Kommilitone Andreas Gursky seit Jahren erfolgreich vorführt: die Übertragung großformatiger Aufnahmen – von Negativen und Dias in Postkarten- oder Taschenbuchgröße – auf die großformatige Präsentation.

Das Motiv der internationalen Kunstmuseen hätte plumper wohl kaum gewählt sein können, um zum Ausdruck zu bringen, in wessen Nachbarschaft Struth sich sieht und wo er seine Bilder am liebsten dauerhaft ausgestellt sehen würde. Das Kunstestablishment stieg drauf ein, allen voran der Kunsthistoriker Hans Belting, der anhand von Struths Bildern die Entdeckung machte, „daß die Räume und die Bilder bleiben, während die Passanten kommen und gehen“.

Kommen oder gehen, es gelingt Struth nicht, Szenen mit acht oder 25 Personen visuell schlüssig zu codieren. Es bleibt das voraussehbare Bild des beeindruckenden Saals mit mehr oder weniger verwischten BesucherInnen in den zufälligen Garderoben der Saison. Bei den Museums-Schinken wird gänzlich deutlich, daß Struth – ausgerechnet ein gelernter BecherSchüler – ein ernsthaftes Problem hat, das große Aufnahmeformat in den Griff zu bekommen. Offensichtlich bemüht, mit dem „vorhandenen Licht“ (in der Sprache der Fotografen) zu arbeiten, hat er ein klassisches Problem damit, die Figuren (die Besucher) abzustoppen und dennoch die Tiefe des Saals in den Bereich der Schärfe zu bringen. Nun kann man eine Architekturkamera verrenken wie beim Ballett. In Struths Technik läuft es darauf hinaus, daß ein Bild – ein Géricault, ein Pollock –, am oberen Bildrand scharf wiedergegeben wird, am unteren Rand aber unscharf. Dafür gewinnt der Fotograf eine Spur an Tiefenschärfe im Museumsraum, nämlich für das Schuhwerk der Besucher.

Viel schlimmer ist jedoch, daß Struth einen gewissen Blick für interessante Ödnis, den er einmal hatte, komplett eingebüßt zu haben scheint. Früher reichten ihm die bizarr ziselierten Bauten der Pariser banlieues; heute muß es mindestens ein buddhistischer Tempel sein oder der Platz des Himmlischen Friedens. Der Fotograf ist dem fatalem Irrtum verfallen, wenn viel Kultur drauf sei, sei auch viel Kultur drin.

An Struths Retrospektive wird deutlich, daß die Differenz zwischen dem „gefundenen“ und dem „gemachten“ Bild virulent bleibt. Die enorm elaborierten erfundenen Tableaus des Kanadiers Jeff Wall sind der Joker der Museumsleute, weil ihre Suggestion, ihre Details und ihr konzeptueller craze das Publikum in Bann schlagen – wie etwa die Videos von Bruce Nauman oder die Land-art von Christo. Wer im Kunstbetrieb mit dem „gefundenen“ Motiv operiert, muß ein hellwacher Zeitgenosse sein. Die Bechers, mit ihrer Manie für die Industrie von vorgestern, sind ein gutes Beispiel.

Mit der vakanten Professur Bernd Bechers steht die Frage im Raum, ob es erstens die Schule (als Lehre) weiterhin wird geben können und zweitens, ob einer ihrer Schüler die Kraft hat, sie fortzuführen und umzuwälzen. Seit Jahren kursieren Gerüchte, die Berufung nicht Thomas Struths, sondern Thomas Ruffs sei wahrscheinlich.

Von Ruff stammen die großen, pedantisch ausgeleuchteten Portraits junger Leute, deren Banalität plus Dringlichkeit vom Kunstpublikum vor zehn Jahren als Fanal einer neuen Fotografie gedeutet wurden. Vor allem waren es die ersten Zeichen eines Werks, das in überschaubaren Werkphasen markante Statements produziert hat: eine Serie grünlich schimmernder Spionagefotos aus Düsseldorf; eine Serie über den Nachthimmel der südlichen Hemisphäre; und, nach anderen Experimenten mit fotografischen Apparaten absonderlicher Fachgebiete, überraschenderweise politische Collagen über das Ende der Kohl-Zeit (taz vom 11.3.). Als Grübler und Spieler hatte auch Ruff Auftritte, die nicht überzeugten; aber seine Schwächen sind nicht die der Bequemlichkeit.

In Düsseldorf tagt derweil die Berufungskommission. Erstplaziert für die Nachfolge der Bechers – so sagen die Leute mit den großen Ohren – sei Jeff Wall. Jemand, der englisch spricht und der gewiß nicht in Deutschland wohnen würde? Akademiekanzler Peter Lünen verweist mich auf Jannis Kounellis und Nam June Paik, die auch keine Düsseldorfer waren und sind und dennoch Hochschullehrer dort wurden. Sollten die Verhandlungen mit Wall, der an der kanadischen Westkünste zu Hause ist, scheitern – und das ist durchaus möglich, denn die finanziellen Ressourcen sind bekanntlich begrenzt –, wären die nächsten Kandidaten für die lukrative Professur: Thomas Struth und Thomas Ruff, in dieser Reihenfolge.

Struth mag im Museum groß sein. Auf dem Ticket der Bechers ist er um die ganze Welt gereist. Aber der Radius seiner Arbeit ist sichtbar beschränkt. In der Dokumentation hat seine Fotografie keinen Rang mehr, als Kunst muß sie folgenlos bleiben, weil sie keinen Widerstand bietet. Die Becher- Schule endet mit der Becher- Lehre. Es wäre gut, sich das einzugestehen.

Thomas Struth, bis 7. 6. im Carré d'art, Nimes. Der Katalog „Still“, 144 Seiten, bei Schirmer/Mosel