■ Obwohl die EU wahrscheinlich das wichtigste neue Element der modernen Staatenwelt ist, schreibt sie keine große Geschichte
: Euro-Krieger Kohl

Die europäische Einigung ist keine Sache großer Ereignisse. Sie ist nicht Ergebnis großer Schlachten und Siege, sondern mühseliges Herauswinden aus der Zeit, in der die europäischen Mächte glaubten, die Welt unter sich aufteilen zu können, und die Nationen sich dafür an den Kragen gingen. Im Unterschied zu den europäischen Nationalgeschichten glänzt die Geschichte der EU nicht mit Daten. Wer weiß schon auf Anhieb, wann der europäische Binnenmarkt in Kraft trat, und wer könnte gar sagen, auf welchem Gipfel dafür die Weichen gestellt wurden? Nicht anders wird es dem Brüsseler Gipfel ergehen. Wenn die Währungsunion gelingt, wird bald niemand mehr genau wissen, wann sie überhaupt beschlossen wurde. Allenfalls wenn sie doch noch platzen sollte, wird der Gipfel vom Wochenende länger im Gedächtnis bleiben. Dann wird er für den letzten Versuch stehen, auf dem bisher verfolgten Weg die europäische Einigung voranzubringen. Es ist ihm also zu wünschen, daß er wie alle seine Vorgänger bald in Vergessenheit gerät.

Obwohl die EU wahrscheinlich das wichtigste neue Element der modernen Staatenwelt ist, schreibt sie keine große Geschichte. Die europäische Einigung ist Alltag und erscheint zugleich als bürokratische Veranstaltung. Auf der einen Seite kann sich niemand die EU aus seinem Leben wegdenken. Auf der anderen Seite wird jeder Schritt der EU als Anschlag auf Gegebenheiten verstanden, die erst über die EU zur Normalität geworden sind. Wie stände es um die vielgepriesene Erfolgsgeschichte der D-Mark, wenn sie nicht in die europäische Integration und den Aufbau einer europäischen Friedensordnung eingebettet gewesen wäre? Der „Exportweltmeister“ Bundesrepublik erwarb sich diesen Titel auf europäischem Platz. Wie es heute um die „deutsche Stabilitätskultur“ stünde, wenn die anderen Mitgliedsländer der EU sich nicht volens nolens der Geld- und Währungspolitik der Bundesbank angepaßt hätten, steht in den Sternen. Kurz und gut: Was heute nicht gern aufgegeben wird, sei es die D-Mark, sei es ein Stückchen Souveränität, gäbe es wahrscheinlich gar nicht ohne die europäische Einigung. Die EU ist so sehr in den Bereich des Gewöhnlichen abgesunken, daß sie nur selten ins politische Bewußtsein kommt.

So wird der Europapolitiker Kohl immer dann zur komischen Figur, wenn er eines der europäischen Unternehmen, wie jetzt die Währungsunion, zu einer historischen Großtat stilisiert. Die Währungsunion hat er bis vor kurzem zu einer Entscheidung über Krieg und Frieden erklärt. Er hatte damit nicht so unrecht, wie er sich lächerlich machte. Neuerdings nahm er sich etwas zurück, ließ den Krieg weg und beschwor nur noch den Frieden, den die Währungsunion sichere, indem sie die europäische Integration „unumkehrbar“ mache: Eines seiner Lieblingswörter, das er wie die Rede vom „europäischen Haus“ von Gorbatschow übernommen hat. Die Dynamik von Widersprüchen versteht er aber besser als sein Stichwortgeber.

Die Einwände gegen Kohls Rhetorik liegen auf der Hand. Sie kommen aus entgegengesetzten Richtungen. Der eine lautet: Wer ernstlich noch an eine Kriegsgefahr in Europa glaube, könne sich gerade nicht auf eine Währungsunion einlassen. Kriegsgefahr setze potentiell antagonistische Interessen voraus. Für eine Währungsunion könne man in Wahrheit also nur sein, weil es in Europa keine antagonistischen Interessen mehr gibt. Der andere Einwand lautet: Die Währungsunion rufe, indem sie die Stoßdämpfer flexibler Wechselkurse aus dem Verkehr der Mitgliedsländer ausbaue, überhaupt erst die Gefahr hervor, daß sich widersprüchliche Interessen zu Antagonismen steigerten. Wenn man schon von Krieg rede, dann werde er durch die Währungsunion eher wahrscheinlicher. Man müsse gegen die Währungsunion sein, weil durch sie vorhandene Differenzen und Widersprüche bis zur Explosionsgefahr gesteigert würden.

Abstrakt genommen sind beide Einwände berechtigt. Kohls Befürchtungen sind aber viel konkreter, als sie in seiner nicht weniger abstrakten Rhetorik auftauchen. Er hat in der Situation des Zusammenbruchs des Sowjetreiches hautnah erfahren, daß die deutsche Vereinigung und die Öffnung Mittelosteuropas nach Westen zu wachsenden Schwierigkeiten zwischen Frankreich und der Bundesrepublik führen, ja zum Bruch treiben können, wenn die hegemoniale Stellung der deutschen Geld- und Währungspolitik nicht in einer europäischen Form aufgehoben wird. Der Sinn von Kohls Rede ist: Der politische Rückfall Europas in die Vor- und Zwischenkriegssituation ist nach Auflösung des Sowjetreiches nur dauerhaft zu verhindern, wenn das entscheidende neue Element der europäischen Ordnung, die EU, gestärkt und erweitert wird. Wie die Dinge liegen, geht das nur über eine europäische Währungsunion, weil die D-Mark als faktische Leitwährung und die Deutsche Bundesbank als informelle europäische Zentralbank unter den neuen Bedingungen statt nur gelegentliches Ärgernis zu bereiten, zum Spaltpilz der Union werden müssen, je mehr die hegemoniale Rolle ihnen auch nach Osten zuwächst. Um unter den geänderten Bedingungen nicht am Rhein eine ältere Spaltungslinie neu aufreißen zu lassen und damit die Chance auf eine Ausdehnung der europäischen Einigung zu verspielen, ist also die Währungsunion das Hauptkettenglied. In schwierigen Situationen handeln gewitzte Politiker immer so, als hätten sie Maos Schrift „Über die Praxis“ gelesen. Kohl mag kein Ökonom sein. Aber Augstein versteht manchmal nicht einmal etwas von Politik.

Nachdem die Bundesrepublik mit dem Maastrichter Vertrag die politische Wette auf eine dauerhafte europäische Friedensordnung eingegangen war, hat die Regierung immer kleinlicher nur noch um den ökonomischen Einsatz gestritten – 3 ist 3,0. Sie kriegt Innen- und Außenpolitik nicht unter einen Hut, weil sie noch im Arbeiter den Bourgeois anspricht und nie an die Bürgerinnen und Bürger der Republik appelliert. Der Frieden hängt aber nicht von einer Stelle hinter dem Komma ab.

Kohl hat begriffen, aber nie ausgesprochen, daß der europäische Einigungsprozeß von Einheit und Widerspruch zwischen Frankreich und der Bundesrepublik abhängt und noch lange nicht klar ist, was das Übergewicht behalten wird. Entscheidend ist, daß beides eine europäische Bewegungsform findet. Wie merkwürdig auch immer: In Brüssel ist das wieder einmal gelungen. Joscha Schmierer