Es wird Zeit für Demokratie

■ Pekings Universität feiert heute ihr hundertjähriges Bestehen. Ihr Professor, Shang Dewen, ist der erste KP-Gelehrte, der seit der Studentenrevolte von 1989 wieder öffentlich Demokratie fordert

taz: Das Jubiläum Ihrer „Beida“ genannten Universität Peking findet mitten in einer neuen Reform-Phase statt, die manche schon als „Pekinger Frühling“ beschreiben. Wird die Beida wieder ein Platz des freien Gedankenaustauschs?

Shang: Hundert Jahre sind eine lange Zeit und ein langer Prozeß. Die Universität Peking hat eine bekannte Tradition – die „Beida-Tradition“. Diese Tradition bezieht sich auf zwei Seiten. Erstens: die revolutionäre Tradition, weil Beida der Entstehungsort der „4.-Mai-Bewegung“ war. Zweitens: die Tradition der Wissenschaft, Demokratie und Freiheit. Die erste Tradition ist, seitdem die Kommunistische Partei in China an der Macht ist, nicht mehr so wichtig.

Die zweite Tradition erlebte vom Anfang der 50er Jahre bis 1957 ihre Blütezeit. Danach brachen die „Anti-Rechts-Kampagne“ und der Klassenkampf aus, die eine starke Störung von der Außenwelt bildeten, gegen die sich die Intellektuellen nicht schützen konnten. Das Jubiläum ist ein guter Anlaß, um diese zweite, freiheitliche Tradition wieder zu entwickeln.

Wird Präsident Jiang Zemin während des Jubiläums oder zu einem späteren Zeitpunkt die wissenschaftliche Führungsrolle der Partei in Frage stellen, damit die Wissenschaft wieder frei wird?

Das könnte möglich sein. Ein Freund hat mir erzählt, daß Jiang bei einer wissenschaftlichen Konferenz davon gesprochen hat, eine „lockere“ Umgebung für die Wissenschaftler zu schaffen.

Glauben Sie, daß es nötig ist?

Um die wissenschaftliche Entwicklung zu fördern, benötigt man einerseits mehr finanzielle Unterstützungen und ein rechtsstaatliches System und andererseits eine freiheitliche Atmosphäre in der Gesellschaft. Dabei gibt es einen Unterschied zwischen Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften. Die Naturwissenschaftler in China haben auch früher weniger Beschränkungen erlebt. Bei den Sozialwissenschaftlern ist bis heute die Fesselung noch nicht ganz gelockert. Nach der Gründung der Volksrepublik hat China das stalinistische Modell der Sowjetunion übernommen.

Sie zögern nicht, frei darüber zu reden, was Sie denken, und treten heute öffentlich für Demokratie ein. Ist es heute wieder möglich, über Demokratie zu reden?

Als ich die Rede von Jiang Zemin am 29. Mai 1997 in der Zentralen Parteischule hörte, schätzte ich, daß er beim darauffolgenden 15. Parteitag von der Reform des politischen Systems reden würde. Dieser Gedanke hat mir damals den ersten Mut gegeben, frei zu reden. Nach dem 15. Parteitag ist die gesellschaftliche Atmosphäre immer lockerer geworden.

Woher schöpfen Sie diesen Mut? Wartet die große Zahl der Chinesen, die Arbeiter und Bauern, heute auf Demokratie?

Mein Hauptwunsch ist, daß die Regierung richtig damit anfängt, das alte politische System zu reformieren.

Wo muß der Anfang gemacht werden?

Vor dem 15. Parteitag habe ich in einem Brief an Jiang Zemin meine Ideen zur Reform des politischen Systems geschildert. In China sollte Demokratie von oben nach unten kommen und nicht umgekehrt. Als ersten Schritt sollte die KP eine große Konsultativkonferenz veranstalten. Politiker aus Taiwan, Hongkong, Macao und Vertreter von Auslandschinesen sollten daran teilnehmen. Neben der Diskussion der vielen Wirtschaftsprobleme sind politische Reformen am dringendsten. Ohne sie wäre die Lösung der Wirtschaftsprobleme unmöglich. Das alte politische System ist ein großes Hindernis für die Entwicklung der Wirtschaft und Kultur. Bei der Konsultativkonferenz sollte deshalb eine neue Verfassung ausgearbeitet werden, die das alte System nach dem Modell der Sowjetunion abschaffen und durch ein System mit Präsident, Parlament und unabhängiger Justiz ersetzen würde. Die erste Phase könnte fünf Jahre dauern. In dieser Vorbereitungsphase könnte man auch eine provisorische Regierung gründen wie in Hongkong nach der Rückgabe. Die zweite Phase, die ich „Vordemokratie“ nenne, würde ungefähr zehn Jahre dauern und könnte nach dem Modell südostasiatischer Staaten oder Süd- Koreas erfolgen. Danach brauchte man noch zehn Jahre, um eine richtige und vollständige Demokratie zu erreichen.

Durch das neue demokratische System könnten die Korruption beseitigt und die wirtschaftliche und administrative Effizienz erhöht werden. Nachdem westliche Medien über meine Ideen berichteten, erhielt ich viele Telefonanrufe und Briefe von Chinesen, die mir zustimmen. Sie glauben, jetzt sei der richtige Zeitpunkt für Demokratie.

Ich habe den Eindruck, daß Sie mit Ihren Vorschlägen eher in der Tradition der Revolution der Beida stehen.

Die Revolution ist auch eine Reform, oder man kann auch sagen, die Reform ist eine Art von Revolution.

Können Sie diese Ideen im Rahmen der Universität vertreten?

Zur Zeit ist es noch unmöglich. Ich wurde von Studenten zum Vortrag eingeladen. Der Einladung bin ich nicht gefolgt. Ich fürchte, daß etwas Unerwartetes passieren könnte. Interview: Georg Blume