Das Exil ist eine Art Paranoia

Ein literarischer Störfall: Die Kroatin Dubravka Ugrešić erzählt von abhanden gekommenen Erinnerungen und erfindet eine neue Wirklichkeit. Ihr Roman „Das Museum der bedingungslosen Kapitulation“ ist der Versuch, Postmoderne und Moral zu verschmelzen  ■ Von Anke Westphal

Man altert. Wer aus Gewohntem vertrieben wurde oder weggegangen ist, versucht das Leben festzuhalten. Die Schriftstellerin Dubravka Ugrešić erzählt in ihrem neuen Buch von Fotoalben. Es gibt jugoslawische Flüchtlinge mit Fotoalben und andere ohne. Manche Familien – Kroaten, Serben – kamen aus den Ferien an der Adria zurück und fanden ihre Wohnung von anderen – Serben, Kroaten – in Besitz genommen. Sie wollten wenigstens ihre Alben aus der Wohnung holen, sagten sie. Die neuen Bewohner haben ihnen nicht aufgemacht.

Die Tragik einer Autobiographie liegt Dubravka Ugrešić zufolge in der Abwesenheit von Persönlichem. Verlust ist Abwesenheit, und Erinnerung selektiert. Es kommt vor, daß man sich nicht mehr in seinen Erinnerungen zurechtfindet oder daß sie ganz verschwinden. Dann droht aber auch die Biographie zu verschwinden. „Traumata, die man in den Entwicklungsjahren erleidet, vergißt man nie“, sagt Ugrešićs Freundin V.K.: „Manche nennen das Nostalgie.“

Dubravka Ugrešić ist – war? – eine kroatische Emigrantin. Seit sieben Jahren zieht sie mit einem Koffer durch die Welt wie ein moderner Johann Ohneland, ohne daß sie es jedoch so bezeichnet. Archiviert werden muß, denn „das Exil“, so Ugrešić, „ist eine Art Paranoia“. Die Archivarin begreift es nicht erst, als sie ihrer Mutter ein Tagebuch schenkt. Die alte, einfache Frau weiß nichts Rechtes damit anzufangen. Sie schreibt, was sie für „nichts“ hält, Triviales. Am Ende liegen „Schuppen ihrer Sprache, ihrer Identität, Intonationen, die nur ich verstehe, Worte, deren Sinn nur ich kenne“, liegen auch „falsch gebrauchte Wörter, falsch gebrauchte Fälle..., überflüssige Ausrufungszeichen“ in der Hand der Tochter.

Dubravka Ugrešićs Sisyphosaufgabe als Künstlerin besteht nicht allein im Erinnern, dem stellvertretenden Erinnern für die Sprachlosen und Verstummten inbegriffen, sondern in der „Erfindung der Wirklichkeit“. Diese Erfindung schmerzt Ugrešić – und bald auch den Leser –, weil sie nicht Gewißheit werden kann, sondern Erfindung bleiben muß. Man merkt es Ugrešićs neuem Buch an.

Dubravka Ugrešić erzählt in „Das Museum der bedingungslosen Kapitulation“ viele Geschichten, die auch Biographien waren oder es noch sind: die Geschichte ihrer unter Kriegsbedingungen lebenden Mutter, die – muß man sagen – Legenden von jugoslawischen Freundinnen, die plötzlich „richtigen“ oder „falschen“ Seiten zugehören, und die Geschichten anderer Ausländer in Städten und Ländern, die nicht zur Heimat werden. Fotos, Notizen, Texte und scheintriviale Objektkunst wie die Ilja Kabakows dienen dem Abgleichen von Zeit, Ort und eigener Erfahrung.

Wo aber Wahrheit nicht zu haben ist, nähert man sich dem, was Ugrešić meint, wenn sie trotz aller Skepsis dennoch erzählt (denn das tut sie), am ehesten durch Lyotards „Geschichtszeichen“. Selbst ein Engel der Geschichte kommt einmal zu Besuch, als die Freundinnen sich treffen. Alfred heißt er, er rappt in Zitaten und verwehrt der Autorin bedeutungsgeladen das gnädige Vergessen, das er den anderen schenkt.

„,Rilke hat irgendwo gesagt, daß die Geschichte eines erschütterten Lebens nur in Fragmenten erzählt werden kann‘, sagte ich zu Milos.“ Milos bleibt in Ugrešićs Buch nur ein Name, keine Figur – so wie „Richard“ oder „der Chinese“. Das ist Absicht. „Wie bei Fehlschlägen üblich, gleicht das Unternehmen, sich die Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen, dem Versuch, den Sinn des Daseins zu erfassen.“

Simultane Welten bedrängten die Autorin schon in „My American Fictionary“ (1994), ihrem vorigen Buch, auf kroatisch, russisch, niederländisch oder englisch. Parallelwelten existierten und zerfielen alle gleichzeitig. Ugrešić versuchte, sie in Fragmenten, „Wörterbüchern“ und Skizzen zu sortieren, um sich im Netz der eigenen „inneren Koordinaten“ besser zurechtzufinden. Viel mehr hatte ihr der Krieg in Jugoslawien nicht gelassen. Am Verfahren der Autorin hat sich in ihrem neuen Buch wenig geändert; dennoch scheint sie angekommen in der Ortlosigkeit. Ihre unglaubliche gedankliche Tiefe wiegt sich wie in einem schwebenden Erstaunen. Wo bin ich? Was bin ich? Kann ich etwas herausfinden?

Dubravka Ugrešić geht es um das Erkennen – eine heikle Angelegenheit immerhin, doch ihrem weltzugewandten Agnostizismus, ihrer Metaphysik der Historie folgt man bereitwillig. Das kühle McLuhansche Operieren mit der Zeichenebene via TV, Mailbox oder Radio, die über den Krieg in Jugoslawien zwar berichten, ihn aber auch erfinden, machte Ugrešićs „American Fictionary“ zum intellektuellen Bravourstück. Dieses Operieren behält als westeuropäisches Reflexionsmodell zwar noch seine Gültigkeit, funktioniert für die Autorin aber nicht mehr als Distanzierungsmodell.

Die Beobachterin Ugrešić personalisiert Geschichte mehr und mehr als etwas, das einem widerfährt. Das zieht erst einmal die Trennung von Welt und einzelnem nach sich. Die eigene Mutter spielt in Ugrešićs zeit- und erfahrungssymmetrischer Umschichtungsarbeit die wichtigste Rolle. Ihr Leben als erwachsene Frau begann 1946 mit einer Zugfahrt durch das vom Zweiten Weltkrieg zerstörte Jugoslawien, und es mündet in den einsamen Alltag in einer wiederum vom Krieg gezeichneten Heimat. Die Wiedererweckung des Lebens durch Erzählen ist eine Auferstehung.

„Das Museum der bedingungslosen Kapitulation“, benannt nach der ehemaligen sowjetischen Gedenkstätte in Berlin-Karlshorst, wird von Autorin und Verlag als Roman ausgegeben und ist viel mehr – ein Bild der Welt, das zwei Antagonismen verschmilzt: Postmoderne und Moral. Oder sind es nur Stil und Ethik? Dubravka Ugrešić unternimmt den Versuch, Fäden zu ziehen aus dem dichten Vorhang, den Mutter, Freundinnen, Lebende und Tote vor die Vergangenheit gezogen haben.

„Das Museum der bedingungslosen Kapitulation“ ist zu einem bewegenden literarischen Störfall geraten. Man sollte das Buch langsam lesen, eher Szene für Szene als Kapitel für Kapitel, mit langen Pausen dazwischen, damit einem auch ja nichts entgeht: kein Wort, kein Wahrheitspartikel und kein Fünkchen der unermeßlichen Aufmerksamkeit, ja des Respekts der Autorin für den einzelnen.

Dubravka Ugrešić: „Das Museum der bedingungslosen Kapitulation“. Aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1998, 299 Seiten, 38 DM