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Der cholerische Freigeist

■ Mit inzwischen 65 Jahren definiert sich Willie Nelson über die beständige Neuinterpretation seines üppigen Back-Katalogs

Als seine (alte) Plattenfirma vor Jahren eine dieser Marketing-Umfragen durchführte, fielen den meisten Menschen beim Anblick des Mannes mit dem unvermeidlichen Stirnband zwei Worte aus dem Mund: „Free Spirit“. Und ein freier Geist schließt – frei nach Neil Young – immer auch die Freiheit zu scheitern ein.

Er sei, so mutmaßte der Mann aus dem texanischen Kaff Abbott einmal, in diese Welt gesetzt worden, „um zu demonstrieren, wie unvollkommen ein Typ sein kann“. Drei gescheiterte Ehen, der Freitod seines Sohnes Billie, ein Steuer-Bankrott und auch ein paar kreative Irrtümer (ich sage nur: Julio Iglesias) stehen bei dem cholerischen Freigeist zu Buche, für den Country und Blues „dasselbe sind“, der an Gott und Hanf glaubt, an Karma und Reinkarnation. Seiner ebenso unterhaltsam-kuriosen wie informativen Autobiographie Willie (Pocket Books, 1989) stellte er den schönen Satz „I didn't come here and I ain't leavin'“ voran, er traut sich, auch schon mal Wände („Hello Walls“) und den „Spirit Of E9“ zu besingen, und seine Lebensphilosophie eines „Positive Thinking“ brachte Nelson am schönsten in dem Song „Still Is Still Moving To Me“ (vom weithin und zu Unrecht verschmähten 93-All-Star-Opus Across The Borderline) auf den Punkt. Die kreative Eingebung verdanke er „Funkwellen von irgendwo aus dem Universum“, die Melodien dazu „fische ich aus der Luft“.

Ähnlich Bob Dylan definiert sich Willie Nelson – gerade 65 geworden – schon lange nicht mehr über aktuelle Veröffentlichungen, sondern über die beständige Re-Interpretation des üppigen Back-Katalogs auf einer „Never Ending“-Tour. Sein geliebter Tour-Bus „Honeysuckle Rose“, ein komfortables Refugium, bewahrt ihn dabei zumindest daheim vor Dummheiten nach Show-Ende. Schließlich soll die vierte Ehe nun auch die letzte sein.

Daß diese Tour mit einem Album (Spirit) beworben werden muß, daß schon fast zwei Jahre im Regal steht, paßt hübsch ironisch ins Bild. Seine Konzerte pflegt Willie Nelson mit „Whiskey River“ zu eröffnen – alles danach ist eine weitgehend offene Angelegenheit, die leider auch die Gefahr liebloser Medleys birgt. Weitgehend Gültigkeit hat aber nach wie vor das Urteil, welches der legendäre Nashville-Songwriter Harlan Howard („I Fall To Pieces“) schon vor 25 Jahren nach einer Nelson-Show fällte: „Oh Gott! Es ist, als ob man auf ein Rock-Konzert geht. Nur die Songs sind besser, und man kann alle Texte verstehen.“ Jörg Feyer Di, 12. Mai, 20 Uhr, Große Freiheit

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