Das Monster in wechselnder Gestalt

■ Schlammassen haben unteritalienische Städte überschwemmt. Mindestens siebzehn Menschen sind dabei ums Leben gekommen

Sarno (taz) – Noch sieht die Via Napoli aus wie an einem ganz normalen Regentag – Pfützen, aus den wie immer schnell überfüllten Dachrinnen herabplätschernde Wasservorhänge, Autos wie üblich kreuz und quer geparkt.

Doch etwas ist anders als sonst: Die Menschen, die sich hier im frühen Morgengrauen auf den Straßen bewegen, wenige nur, sichern sich nach allen Seiten – fast wie in Gangsterfilmen, wo die Helden sich ständig herumdrehen und in alle Gassen spähen, von woher der Feind angreifen wird.

Und dann greift er wirklich an, der Feind – angekündigt durch ein hohes Winseln, das man erst bei der zweiten oder dritten Erfahrung dieser Art als Warn- und zum Teil auch Hilferufe verzweifelter Frauen und Männer erkennt. Dann ein Tosen, und unmittelbar danach bricht aus einer der Seitenstraßen etwas hervor, das man trotz seiner ständig wechselnden Gestalt als Monster bezeichnen könnte: flach zunächst, wie einzelne Zungen, dann plötzlich meterhoch bricht sich die Schlammmasse eine weitere Bahn ins Stadtinnere. Mit einer Gewalt, als käme sie aus Tausenden von Metern herab – obwohl die umliegenden Hügel kaum zehn Meter höher liegen als die Stadt –, prallt der graugelbe Brei gegen die Hauswände, bäumt sich regelrecht auf, läßt Umrisse unzähliger Gegenstände erkennen, Äste, Motorräder, Fensterrahmen, Kisten. Nur wenige Sekunden, dann sind sie vorüber, wieder untergegangen, neue Umrisse tauchen auf und verschwinden wieder unter dem nachdrängenden Brei. „Rechts hinauf“, schreit der Zivilschutzhelfer, „rein in die Häuser, aber nicht weiter als in den ersten Stock, falls das Gebäude zusammenstürzt.“ Sekunden später ist die gesamte Piazza meterhoch mit Schlamm bedeckt.

Seit Dienstag abend ist die Campania, das Hinterland Neapels, nach dreitägigem Dauerregen von katastrophalen Erdrutschen betroffen. Speziell die Gemeinden Sarno, Siano und Quindici hat es voll erwischt; meist sind in ihrer Umgebung kleinere Flüsse weit über die Ufer getreten.

Siebzehn Menschen sind bei den Überschwemmungen bislang ums Leben gekommen. Besonders schlimm sieht es im Krankenhaus von Sarno aus – dort ist ein Teil des Gebäudes zusammengebrochen, der gesamte Erste-Hilfe-Trakt wurde begraben, die Ärzte, die Schwestern, die gerade erst Eingelieferten, ihre Verwandten.

Gerade vor zwei Jahren, bei der letzten solchen Katastrophe, war rasche Abhilfe und langfristige Vorwarnung versprochen worden. „Alles Geschwätz“, sagt einer der Helfer, während er aus den Angeln gebobene Türen und zahlreiche Kisten vor einem Hauseingang wegwuchtet, um drinnen nach möglichen Opfern zu sehen. „Wenn man hier Abhilfe schaffen wollte, müßte man die Dörfer erst mal ganz abreißen und richtige Kanalisationen legen“, knurrt er, „und wer hätte dafür Geld?“

Plötzlich erneut helle Aufregung: Kameraleute haben bei ihren Aufnahmen die Gasse hinauf etwas Rotes gesichtet, das wie ein Regenmantel aussieht, und es könnte durchaus sein, daß darin ein lebloser Mensch steckt. Nur ein paar Sekunden war er aufgetaucht, die Szene wird mehrere Male zurückgespult. Die Zivilschutzhelfer geben per Sprechfunk Hinweise an die Posten an den umliegenden Kreuzungen. Doch niemand sichtet mehr den roten Mantel. Werner Raith