Der große Schlagabtausch findet in Ungarn nicht statt

■ Morgen wählen die Ungarn ein neues Parlament. Trotz rigider Sparmaßnahmen gelten die regierenden Sozialisten als Favoriten. Auch rechtsextreme Parteien sind nicht chancenlos

Budapest (taz) – „Die Bürger haben die Wahl zwischen einer europäischen Linken und einer anachronistischen, haßerfüllten Rechten, die aus eiskaltem Machttrieb handelt und schon jetzt mit Säuberungen droht.“ Vor diese Alternative stellt Ungarns sozialistischer Ministerpräsident Gyula Horn seine Landsleute, die morgen ein neues Parlament wählen werden. Es ist eher ein Appell an das Ruhebedürfnis der Ungarn als ein ideologischer Aufruf. Denn vielen klingt noch die hysterisch-nationale Rhetorik in den Ohren, mit der Ungarns Konservative bis 1994 regierten.

Ungarns Rechte treten diesmal zahmer auf und begnügen sich damit, die zahlreichen Korruptionsaffären der sozialistisch-liberalen Regierung unter dem Motto vom „Ausverkauf des Landes“ aufzulisten. Erneut ist in ihren Programmen von Nation und Vaterland die Rede. Und davon, daß die „freien Ungarn“ keine „Lohnsklaven Europas“ werden dürften und für die Ungarn in den Nachbarländern „Inseln des Bürgertums“ erbaut werden müßten.

Zwei Dutzend Parteien treten zu den Parlamentswahlen an, doch nur vier werden die Vierprozenthürde voraussichtlich überspringen: auf Regierungsseite die exkommunistische Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) und ihr Partner, der liberale Bund Freier Demokraten (SZDSZ), auf Oppositionsseite der national-konservative Bund Junger Demokraten – Ungarische Bürgerpartei (Fidesz- MPP) und die populär-nationale Kleinlandwirtepartei (FKGP). Daneben haben noch zwei weitere Parteien Chancen: das von 1990–1994 regierende, rechtsnationale Ungarische Demokratische Forum (MDF) und die rechtsextreme, antisemitische Partei der ungarischen Wahrheit und des ungarischen Lebens (MIEP).

Favoriten der Wahlen sind die Sozialisten. Dennoch gilt es als unwahrscheinlich, daß sie ihren Wahlerfolg der absoluten Mehrheit von 1994 wiederholen können. Vor allem die Sparpolitik der letzten Jahre sowie die Tatsache, daß die Realeinkommen deutlich gesunken sind, dürfte sie Stimmen kosten. Daran änderte auch die Erfolgsbilanz der Regierung Horn nichts, die eine wirtschaftliche Stabilisierung des Landes vorweisen kann: ein Wachstum von vier Prozent im letzten Jahr, Verringerung der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Auslandsschulden.

Eindeutige Verlierer der Koalition sind hingegen die liberalen Freidemokraten, die mit einer Halbierung ihres 18prozentigen Anteils im Parlament rechnen müssen. Denn worin die Liberalität der ehemaligen Bürgerrechtspartei SZDSZ besteht, können Freidemokraten schon lange nicht mehr erklären. Von den Wirtschaftsministerien hatte der SZDSZ lediglich das Verkehrsressort inne. Auf das Konto des SZDSZ-Innenministers Gabor Kuncze ging so manche Menschenrechtsverletzung, eine ausgebliebene Säuberung des Sicherheitsapparates von alten kommunistischen Kadern und vor allem die drastische Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit. Derzeit verstreicht kaum eine Woche, ohne daß in der ungarischen Hauptstadt Budapest ein Bombenanschlag verübt wird oder Mafia- Gruppen untereinander blutig abrechnen.

Eine andere ehemals liberale Partei hingegen erhofft sich von den Wahlen die Machtübernahme: der Bund Junger Demokraten. Noch vor wenigen Jahren alternativ-liberal, haben sich die Jungrebellen von einst zu einer national- konservativen Zentrumspartei gewandelt und sind stärkste Oppositionskraft. In politischer Hinsicht möchte der 35jährige Fidesz-Chef Viktor Orban Ministerpräsident von 15 Millionen Ungarn werden, also ebenfalls der in den Nachbarländern lebenden Ungarn.

Auch gegen den „Ausverkauf ungarischer Interessen an die EU durch die Sozialisten“ zieht Orban zu Felde. Ökonomisch sind die Jungdemokraten mit einem von Kritikern als „staatswirtschaftlich“ bezeichneten Programm in den Wahlkampf gezogen. „Wir wollen keine Rückverstaatlichung“, verteidigt sich Orban. „Wir wollen nur die Privatisierungsverträge und die dunklen Geschäfte der Sozialisten überprüfen.“

Die Jungdemokraten kommen in Umfragen auf Platz zwei nach den Sozialisten und müßten, um eine Regierung zu bilden, mit anderen Rechtsparteien eine Koalition eingehen. Sicher scheint eine Parlamentsvertretung jedoch laut Umfragen nur für die Kleinlandwirte, deren populistischer Chef Jozsef Torgyan sich laut eigener Aussage entschieden hat, „zu regieren statt zu schreien“. Doch was der Kleinlandwirte-Chef nicht mehr lauthals verkündet, ist immer noch Teil des Parteiprogramms: eine antieuropäische, nationalistische Rhetorik.

Für den Fall, daß auch noch andere nationalistische und rechtsextremistische Parteien ins Parlament einziehen, die möglicherweise eine Regierung aus Jungdemokraten und Kleinlandwirten unterstützen, sieht der prominente Philosoph und ehemalige Bürgerrechtler Gaspar Miklos Tamas dunkle Zeiten auf Ungarn zukommen. Er bezeichnet den Jungdemokraten-Chef Viktor Orban als „machtgierigen Zauberlehrling“, der nicht wisse, womit er spiele – nämlich mit der „demokratischen, republikanischen und europäischen Zukunft Ungarns“. Keno Verseck