Als Gary Glitter der Borussia half

„Wunder gibt es immer wieder“: Mönchengladbach rettet sich mit einem 2:0 in Wolfsburg und der Besinnung auf Pfostenbrüche und Büchsenwürfe  ■ In Wolfsburg bangte Holger Jenrich

Irgendwie taten sie alle so, als ob nichts wäre. Oder korrekter: Sie taten alle so, als ob's Anfang der Siebziger wäre. Die goldenen Gladbacher Jahre: Meisterschaften und Pokalsiege, Pfostenbrüche und Büchsenwürfe, Netzer und Heynckes. Vielleicht würde sie beim Kampf gegen den Abstieg ja helfen, die flehentliche Besinnung auf glücklichere Tage. Manche Anhäger hatten deshalb die aktuelle Schwarzkittel-Kollektion der Bökelbergianer im Schrank gelassen und sich statt dessen in meisterliche Trikotage aus Weisweilerschen Fohlen-Tagen gekleidet.

Andere wiederum hatten an Guildo Horns vermeintlich großem Tag die güldene Eurovisionshistorie Revue passieren lassen und in liebevoller Handarbeit ein übergroßes Transparent gebatikt: „Wunder gibt es immer wieder!“ Und auch die Wolfburger Gastgeber wollten nicht hintanstehen beim großen Seventies-Revival. Als die Gladbacher Kicker sich dem Anpfiff des alles entscheidenden Spiels entgegenstretchten, lieferten Gary Glitter und The Sweet den entsprechend seligmachenden Soundtrack dazu.

Nach einer guten halben Stunde war es allen klar: Der „Those were the Days“-Voodoo-Zauber würde helfen. Effenberg und Wynhoff hatten für ein beruhigendes 2:0 gesorgt, die Rostocker die KSC-Führung postwendend ausgeglichen, die Bochumer ihren sechsten Elfmeter der Saison verballert. Die gut 5.000 Gladbacher Fans im VfL- Stadion und die 5.000 ticketlosen draußen vor den Toren intonierten inbrünstig „Niemals 2. Liga“ und schmückten ihre mehr an Bierfässer denn an Waschbretter gemahnenden Oberkörper mit einer speziell für diesen Frühsommertag produzierten Devotionalie. In weiser Voraussicht und grandioser Geschäftstüchtigkeit hatte Borussia Mönchengladbach, wohl nach Konsultation diverser Weissagerinnen, schmucke „1. Liga Always and Forever“-T-Shirts auf den Markt geworfen.

Sand ins Getriebe der Feierlichkeiten warfen dann nur noch die diversen Radiostationen. Beziehungsweise die Besitzer mobiler Rundfunkempfänger, die – enthusiasmiert oder alkoholisiert – Karlsruhe mit Köln, 1860 mit Bayern, das Park- mit dem Ruhrstadion verwechselten und die nach fremder Hilfe lechzende Gladbacher Fan-Gemeinde mit immer neuen Gerüchten versorgten. Die eine Quelle sprach von einem 3:1 der Löwen in Bochum, ein anderer Informant verkündete zur Unzeit eine Führung der Hanseaten gegen den KSC. Die „Spreeborussen“ tanzten, die „Ambach-Wölfe“ jubilierten, die „Peiner Fohlen“ schrien vor Begeisterung. Bis ein Spielverderber die gute Laune killte und die Schreckensinfo vom angeblichen 2:1 der Badener an der Ostsee verbreitete. „Scheiße“, fluchte darob ein besonders gutgläubiges Fanexemplar in ungebügelter „Silver Star“-Garderobe, „jetzt hält man einmal zu den Ossis – und dann verlieren die.“

Taten sie nicht. Der Knopf-im- Ohr-Kollege drei Meter hinter mir entpuppte sich im Laufe der entsetzlich langsam dahinschleichenden Minuten als zuverlässiger Gewährsmann. 4:1 in Rostock! Studer! Baumgart! Majak! Daß sich die Wolfsburger nun eifrig mühten und die Gladbacher ziemlich planlos die Bälle wegkloppten, war nebensächlich geworden. Der KSC, den man am Niederrhein nach dem Kastanien-Attentat auf Olli Kahn und dem daraus resultierenden Wiederholungsspiel im Oktober 1993 eh auf dem Kieker hat, sprang direktemang in Liga 2 – und die Borussia dem Teufel noch mal von der Schippe. „Ewald Lienen!“ huldigte die Fankurve dem einstigen Gladbacher Linksaußen, der als Rostocker Trainer den erhofften Freundschaftsdienst geleistet hatte. Aber auch den Herrn auf der eigenen Bank vergaßen sie nicht: „Friedel Rausch – der beste Mann der Welt!“

Um 17 Uhr 15 ejakulierte sich dann die ganze grün-weiß- schwarze Bande von den Rängen auf den Rasen. Sieg, Rettung, Klassenerhalt! Einmal Hochstätter angrabbeln, einmal Klinkert küssen, einmal Kamps in die Luft werfen. Von den Liebesbeweisen in Sachen Effenberg mal ganz zu schweigen – der arme Mann.

Schöner als der Pokalsieg 1995 sei dieser Tag, tönte der zu den Bayern scheidende Star, so wichtig für die Stadt, den Verein, die Fans. Die nahmen die Worte des Meisters dankend auf – und ein Stück vom heiligen Rasen mit dazu. Und während in Wolfsburg vor Glück alles durcheinandertrollte und durcheinanderrollte, läuteten in Gladbach auf Geheiß von Domprobst Edmund Erlemann die Kirchenglocken. Wie nach der ersten Meisterschaft im Mai 1970.

Borussia Mönchengladbach: Kamps – Hochstätter (72. Klinkert) – Andersson, Witeczek – Wynhoff (83. Anagnostu), Paßlack, Pflipsen, Effenberg, Schneider, Ketelaer (64. Hoersen) – Pettersson

Zuschauer: 21.600 (ausverkauft)

Tore: 0:1 Effenberg (13.), 0:2 Wynhoff (35.)

VfL Wolfsburg: Zimmermann – Keller – Tomcic, Kovacevic – Kapetanovic, Greiner (77. Ballwanz), Kleeschätzky, Dammeier (46. Meißner), Stammann – Präger, Breitenreiter (77. Stevanovic)