Der gestählte Riesengewaltschwengel

Ein neues Kapitel in der Kulturgeschichte des Penis: Viagra, ein Medikament gegen Impotenz, erhitzt die Gemüter in den USA. Im Herbst soll es nach Europa kommen  ■ Von Mariam Lau

Auf einer Karikatur des New Yorker Zeichners Jack Ziegler sieht man eine Schlange von Männern neben einer Schlange von Frauen anstehen. Die Frauen wollen ins Kino, zu „Titanic“ – also zu Leonardo DiCaprio –, und die Männer wollen in die Apotheke, Viagra-Pillen erstehen. „Viagra“ – auf diesen verheißungsvoll nach Niagara, nach Naturgewalt und frischen, starken Strömen klingenden Namen hat die amerikanische Pharmafirma Pfizer ihr Medikament gegen Impotenz getauft. An dem Tag, als die Pille das erste Mal auf dem Markt war, hat ein Urologe in Atlanta bereits 300 Rezepte ausgestellt, in den ersten zwei Wochen waren es in ganz Amerika 36.809, jetzt sind es täglich 10.000. Das überflügelt sogar den Start des Antidepressivums Prozac oder den von Rogaine, einem Medikament gegen Haarausfall.

Im Internet fachsimpeln die Benutzer: „Habt Ihr schon die Hunderter probiert? Wow! Der Effekt reicht bis zum nächsten Morgen!“ Die Behörden haben einem Dr. Thomas das Handwerk legen müssen, der auf seiner Homepage Rezepte für Viagra per Ferndiagnose versprochen hatte – womit die bei Impotenz bis dahin für unabdingbar gehaltene Differentialdiagnose zwischen physischer und psychischer Erektionsstörung wegfiel, zu der Bluttests, eine ausführliche körperliche Untersuchung und eine genaue Sexualanamnese gehören.

Erste Enttäuschungen wurden aber auch schon vermeldet: Ganz ohne zumindest einen tentativen Ständer geht es auch mit der Wunderpille nicht. Viagra wirkt, indem es den Effekt des körpereigenen Hormons GMP verstärkt, das bei sexueller Erregung die Arterien im Penis weitet und die Venen schließt, so daß es zu einem Blutstau kommt. Bei impotenten Männern schließen die Venen nicht, so daß das Blut genauso schnell zurückfließt, wie es in den Penis hineingeströmt ist. Wer kein GMP ausschüttet, dem ist auch durch Viagra nicht zu helfen.

Von den erfolgreichen Benutzern – die bislang auf dubiose Gels, Wunderheiler oder eine denkbar unerotische Direktinjektion angewiesen waren – wird Viagra verständlicherweise emphatisch begrüßt, ebenso von den Kolumnisten der großen Herrenmagazine. Alle Kommentatoren lassen spüren, daß es beim Thema Impotenz ums Ganze geht. Bob Guccione, der Herausgeber von Penthouse, hofft, das Medikament werde „die männliche amerikanische Libido“ von dem „kastrierenden Wirken der Feministinnen befreien. Es werden sich völlig neue Beziehungen zwischen Männern und Frauen entwickeln, die das Programm der Feministinnen einfach unterlaufen.“ Gay Talese, der zur Zeit an einer Art Kulturgeschichte des Penis schreibt, merkte an: „Der Penis ist eine Waffe, und die Gesellschaft hat große Anstrengungen unternommen, ihn unter Kontrolle zu bringen. Aber er ist zugleich ein geiles und lyrisches Ding, das ehrlichste Organ des Mannes. Entweder er steht, oder er steht nicht, da kannst du nicht mogeln.“ Und Camille Paglia, als Postfeministin vom Time-Magazine zu Viagra befragt, fügte hinzu: „Die Erektion ist die letzte Bastion moderner Männlichkeit. Ich will, daß Männer sich sehr, sehr genau fragen, warum sie diese Pille brauchen. Denn sie brauchen sie, und sie brauchen sie jetzt. Sie brauchen sie, um ihre Erektionen zu härten. Es ist wie mit dem Stahl, den sie bekommen würden, wenn sie in den Krieg zögen.“

Auch auf der Seite der GegnerInnen – und das sind naturgemäß einige – kreist das Denken um die Metapher vom erigierten Penis als einer Waffe, zu der nun Viagra die gefährliche Munition abgibt. Wie um Guccione Material zu liefern, kommentierte Lynn Chancer, eine Soziologieprofessorin von der Columbia-Universität, einem deutschen Journalisten gegenüber, sie befürchte, nun würde bei Männern nicht nur das Machtgefühl neu belebt, sondern auch längst verschüttet geglaubte Chauvi-Manieren reaktiviert. „Bei aller Erleichterung, die Viagra Männern verschafft, die an Impotenz leiden“, faßt der Autor des Berichts zusammen, „ist doch eine gehörige Portion Maßlosigkeit im Spiel, bei der sich männliche Phantasien mit amerikanischem Zweckoptimismus bündeln.“ Eine „genitale Götzenverehrung“ greife hier Raum, ohne Rücksicht auf die Partnerinnen, die sich vielleicht gar keinen „wundersam potenten Mann wünschen“, schon gar nicht einen, der ein „unsensibler Liebhaber ist, für den der Griff in den Schritt das gleiche ist wie der Tritt aufs Gaspedal“.

Man sieht, hier öffnet sich Pandoras Büchse, und alle Übel dieser Welt fliegen einem entgegen: die Maßlosigkeit, wo man doch ein wenig Demut und Schuld erwarten dürfte; der amerikanische Zweckoptimismus, der nach praktikablen Lösungen sucht, wo es doch besser wäre, zu verzweifeln und die Impotenz gefälligst als Fügung zu nehmen, die sicher ihre guten Gründe hat; und schließlich noch die Kombination Auto, Konsumterror und Potenzgeprotze, von der unsere traurigen Tage so geplagt sind wie das Mittelalter von der Pest. Und natürlich darf in einer deutschen Zeitschrift auch der Hinweis nicht fehlen, daß wir ja schon wissen, wohin das führt, wenn der Griff in den Schritt mit dem Tritt pariert wird: „Diese mitten im Wirtschaftsleben stehenden reifen Jahrgänge verlangen von ihrem Penis dasselbe wie von ihren Mitarbeitern und Untergebenen: allzeit bereit sein und auf Befehl strammstehen, nie den Dienst verweigern.“ Wer vom Kapitalismus spricht, darf vom autoritären Charakter nicht schweigen, und Unterschiede zwischen preußischem Obrigkeitsgebaren und dem Habitus modernen Managements sind zu fein, um wahr zu sein. Und schließlich wird wie selbstverständlich angenommen, daß die Frau kein Interesse an einem potenten Mann haben könnte, zumal sich Potenz und Sensibilität irgendwie ausschließen. Ein Internist mit dem schönen Namen Lamm warnt: „Partnerschaften können kaputtgehen, wenn Männer auf einmal übermütig werden.“

Es ist schon erstaunlich, wie selbstverständlich die Männerphantasie von der Erektion als Waffe in der Kulturgeschichte des Penis Platz genommen hat. Der Vergleich mit der Vernichtungsrakete V2 in Thomas Pynchons „Die Enden der Parabel“, deren wahrscheinlicher Niedergang auf London sich wiederum durch Erektionen des Antihelden Tyrone Slothrop ankündigte, war der am meisten gefeierte Kunstgriff des Romans. Von Klaus Theweleits „Männerphantasien“, in denen die Verbindung zwischen „soldatischem Körper“ und „weißem Terror“ der Freikorpssoldaten und der SS untersucht wurde, ist ein Schlagwort geblieben, das rasch den Zusammenhang zwischen Führerprinzip, Erektion und verkrüppeltem Seelenleben anreißt. Wer heute „Männerphantasien“ sagt, ruft die Assoziation von den faschistischen Horden auf, vom „Stahlbad des Fun“, auch wenn lediglich von einem Spanner im Prinzenbad die Rede war, der sich im Gebüsch einen von der Palme wedeln wollte. Cherchez le Schuldzusammenhang!

Das verdruckste Strebertum, mit dem männliche Autoren vor der gigantischen Zerstörungsmacht des erigierten Penis warnen, kann eine gewisse Gereiztheit nicht verhehlen: So streng man auch züchtigt, die Wünsche wachsen und wachsen... Von den Frauen nimmt man vorsichtshalber an, sie wollten es nicht anders; sie wollten einen Leonardo DiCaprio, einen zarten Kindmann, der bestenfalls ein Erektiönchen hat, aber doch gewiß keinen kapitalen Riesengewaltschwengel (Demi Moore weiß da, glaube ich, anderes zu berichten).

Wie dem auch sei: „Über Europa“, so heißt es in dem zitierten Bericht weiter, „wird Viagra frühestens im Herbst hereinbrechen.“ Dann ist ja noch Hoffnung. Wie sagte Mae West so richtig: „A hard man is good to find.“