: Mittenmang in familiären Katastrophen
■ Menschen mit steifen Hüten und die schwierige Kunst, ein weißes Laken zu zerteilen. „Rudelmang – Ein deutsches Drama“ in vier Abschnitten in der Inszenierung des Orphtheaters
„Die Erde ist eine Scheibe!“ hört man am Ende aus verschwörerisch raunenden Kindermündern – und erfährt damit nichts Neues. Nicht umsonst hat sich das Gros der Aufführung auf einer kreisrunden Fläche abgespielt: Eineinhalb Stunden pausenloses Familienunglück, eineinhalb Stunden „Rudelmang“ – wie das Orphtheater seine jüngste Inszenierung nennt: Vielleicht, weil Susanne Truckenbrodt (Regie) und Uta Schnabl (Dramaturgie) mittenmang hineingeschneit sind in den Club der toten deutschen Theaterdichter und überall dort kräftig zugelangt haben, wo die Familie als bissiges und selbstzerstörerisches Rudel ihr kollektives Haupt erhob. „Rudelmang“ könnte aber auch eine etwas eigenwillige Ableitung von „Rudimentär“ sein, denn mit diesem frühexpressionistischen Stück von August Stramm beginnt der in vier Abschnitte gegliederte Abend, um nach Peter Weiss' Moritat „Nacht mit Gästen“ und Werner Schwabs „Mein Hundemund“ mit der besagten Scheiben-Szene aus Georg Seidels „Zettels Traum“ im Epilog zu verhallen.
„Ein deutsches Drama“ als vielstimmiges Jahrhundertkondensat familiärer Katastrophen – das ist ein so ambitioniertes Projekt, daß man es bereits vorab bejubeln möchte. Und es beginnt verheißungsvoll: Aha!, denkt man: Der deutsche Mann trägt staubige Zotteln auf Kopf und Körper und darunter einen aufgequollenen Wams. Doch der da mit starrem Blick an der Rampe steht, es ist nur der Hund. Die Menschen (Matthias Horn und Antje Görner) tragen steife Hüte und verwunderte Mienen und zelebrieren mit grotesker Monotonie und überschnappenden Stimmen die schwierige Kunst, sich ein riesiges weißes Laken zu teilen.
Der Abend wird eröffnet mit einer präzise-verfremdeten Momentaufnahme aus dem Ehealltag zwischen Bett und Korn, Unwissenheit und Gewalt, in dem „rudimentär“ sich als „Blinddarm“ erweist und der plötzliche Tod der Kinder nicht mehr stört als die unaufgeräumte Wohnung. Sterben, das heißt hier Ordnung und Erlösung – bis sich die Weltenscheibe dreht und die Leichen wieder lebendig werden. Äußerlich sind nur ein paar bunte Tücher hinzugekommen, doch der groteske Naturalismus des ersten Teils hat einem verzweifelten Willen zur Komik Platz gemacht.
Peter Weiss' holzschnittartige Skizze eines gefährlichen Einbruchs in die Normalität wird hier vollends zum Kasperletheater, in dessen Tradition sie Weiss auch konzipierte: Uwe Schmieder als räuberischer „Gast“ gibt die Karikatur einer Kabukifigur, bewegt sich ruckartig und grimassiert nach Kräften, während die anderen wie Aufziehpuppen mal in rasselnder Geschäftigkeit überdrehen und mal saftlos in sich zusammenfallen. „Ja, ja, Rudelmang“, wird am Ende gekrächzt, und der vermeintlich so bedrohliche Gast versinkt in Zeitlupe hinter dem Laken – absorbiert vom alles verschlingenden Sog der Familie.
Das ist streckenweise amüsant, in der ewig gleichbleibenden Intensität des Spiels aber trotz der Kürze ermüdend. Fanden die bisherigen Produktionen der „Orphs“ an geheimnisumwitterten Orten, in Kellern, Katakomben und Wasserspeichern statt, bespielen sie nun mit dem Theater am Halleschen Ufer erstmals einen traditionellen Theaterraum. So manche leere Betriebsamkeit, die dem ruhelos schweifenden Zuschauerblick in diesen labyrinthischen Räumen entgehen konnte, wird in der frontalen Draufsicht gnadenlos entlarvt. Deutlich wird dies vor allem im dritten Teil, in dem Ralph Boock umstandslos vom Hund zum „Hundsmaulsepp“ mutiert und Schwabs sprachgewaltiges „Fäkaliendrama“ zum Monolog mit verteilten Rollen: Da ringt einer täppisch mit dem allgegenwärtigen Leintuch, grölt stimm- und melodielosen Wortsalat ins Publikum und spielt „Backe, backe, Kuchen“ auf seinem nackten Bauch. Was die anderen aktionsreich beklagen, ficht ihn nicht mehr an. Die Familie ist tot oder gefährlich. Zusammen kommt hier keiner mehr. Das hat man begriffen, aber weh getan hat es nicht. Sabine Leucht
„Rudelmang“, bis 16.5. und am 23. und 24.5., jeweils 21 Uhr, im Theater am Halleschen Ufer
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