: Graue Maus ist erledigt
Instabil ist die Seelenlage eines Fans des MSV Duisburg – natürlich auch vor dem heutigen DFB-Pokalfinale gegen die Bayern ■ Von Claudio Luciani
Ich verliebte mich in den MSV, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sei sollten.
Zugegeben, dieser Satz entstammt der Feder von Nick Hornby, Englands Fußballkultautor, und der Begriff „Fußball“ wurde gegen „MSV“ ausgetauscht. Die instabile Seelenlage eines Duisburg-Fans kann man aber kaum besser charakterisieren.
Nie so richtig ernst genommen werden – „Zebras in den Zoo“. Ständig Selbstbewußtsein zur Schau tragen. „Ein jeder weiß genau.“ Sich in der Kunst der Selbstironie üben – „Neumühl, Neumühl, wir fahren nach Neumühl.“ Sich behaupten zu müssen zwischen Schalker Auserwähltheitstrauma und neongelben Großmachtphantasien, ist nicht einfach und kostet Kraft. Aber das schweißt zusammen, was zusammengehört. Zur Belohnung geht's heute zum Pokalfinale nach Berlin (19 Uhr, ZDF). Das tut nicht nur gut, das tut verdammt gut! „Es wird Zeit, daß wir endlich wahrgenommen werden“, fordert MSV- Geschäftsführer Dirk Keiper. Also: „Esse est percipi“ _ „Sein ist wahrgenommen werden“ – als Synonym für Identität. Einer Identität, der die MSV-Verantwortlichen seit Beginn dieser Saison Profil verleihen wollen. Fachleute beschäftigen sich mit Marketingstrategien und Imageanalysen. Angefangen mit Boy-Group-Auftritten bei Heimspielen über Umfrageaktionen auf Weihnachtsmärkten bis hin zu einer Kunstausstellung, die einzig und allein den MSV zum Thema hat: „MSV goes ART“ – die blau-weiße Phase soll beginnen.
„Berlin ist das ganz große Ding“, gerät Bülent Aksen, Fanbeauftragter des MSV, ins Schwärmen. „Das ist der Hauch von etwas ganz Großem.“ Und sogar Trainer Friedhelm Funkel, ansonsten kein Freund des gezuckerten Schachtelsatzes, fällt kurzfristig dem Pathos anheim. „Wir stehen im Rampenlicht. Ganz Fußballdeutschland schaut auf uns. Wir wollen uns in deren Herzen spielen.“ Der MSV- Coach muß wissen, wie das geht. 1985, beim ersten Pokalfinale in Berlin, schlug er mit Bayer Uerdingen die Münchner Bayern mit 2:1.
1966 hatte der MSV Duisburg zum ersten Mal ein Pokal-Endspiel erreicht. Der Gegner hieß schon damals Bayern München. 2:4 lautete der Endstand, nicht zuletzt deshalb, weil die Münchener mit Maier, Beckenbauer und Müller leidlich besetzt waren. Fast zehn Jahre später durfte man wieder an einem Endspiel teilnehmen. Bella, Dietz, Schneider, Seeliger, Worm, allesamt Nationalspieler in einem Team, dessen Klasse nicht mehr erreicht werden sollte. Aber auch diese Partie ging verloren. 0:1 gegen Eintracht Frankfurt in Hannover. Bei Blitz und Donner zerstörte ein gewisser Karl-Heinz Körbel Meidericher Titelträume. Heute trainiert er irgendwo in der dritten Liga. Es geschieht ihm recht.
„Das ,Graue-Maus-Image‘ ist endlich erledigt“, behauptet Geschäftsführer Keiper trotzig. „Beim Halbfinale hatten wir über 10 Millionen Fernsehzuschauer. Und allein für Berlin hätten wir 60.000 Karten verkaufen können.“ Wer auch immer sich unter den 60.000 befinden mag, der ein oder andere darf ruhig mal an einem regnerischen Freitagabend, vielleicht gegen den VfL Wolfsburg, ins Wedaustadion kommen. Wer das nicht einmal in Erwägung zieht, möge für immer schweigen oder sich Spiele im Haberland- „Centerpark“ in Leverkusen anschauen. „Wer stand bei der Niederlage gegen Viktoria Goch in der Amateur-Oberliga in der Nordkurve“, erinnert sich Kurt Thielen, Geschäftsführer von Rough Trade und einer der größten noch lebenden MSV-Fans, an die Momente, in denen das Schicksal zu einer von tiefer Melancholie geprägten Zeiterfahrung wurde. „Doch was soll's“, fügt er hinzu, „für das, was da gerade mit dem MSV passiert, habe ich nur ein Wort – DANKBARKEIT.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen