Die Mutter aller Tafeln

Gesichter der Großstadt: Sabine Werth hat die Berliner Tafel gegründet. Das Sammeln von Essensresten für Obdachlose ist aber nur die Spitze ihres sozialen Engagements  ■ Von Britta Steffenhagen

Wenn Sabine Werth das Gefühl hat, daß ihr Leben langweilig wird, dann gründet sie einen Sozialverein oder wird Vorsitzende oder beides. Hierarchien einhalten ist nicht ihre Sache und um Erlaubnis fragen auch nicht. Da winkt sie mürrisch ab, „entweder ich tu' was, oder ich lass' es“.

So kündigte sie vor elf Jahren ihre Festanstellung beim Bezirksamt Charlottenburg und machte sich als erste Sozialarbeiterin in Berlin selbständig. „Selbständig in einem Sozialberuf“, betont sie. Denn sie hat weder einen Geschenkpapierladen noch ein Blumengeschäft eröffnet. Sie gründete die erste private Familienpflegevermittlung in der Stadt und beschäftigt heute fünfzig Mitarbeiter.

Sozialarbeit ist für sie kein Beruf, sondern eine Berufung. Eine glaubwürdige Erklärung für die zwischenzeitlich fünf Anrufbeantworter in der eigenen Wohnung. Das war, nachdem ihr eigenes Unternehmen lief und „mal wieder was passieren mußte“. Sie wurde Mitgründerin und Vorsitzende der „Berliner Tafel“ und erweiterte ihr Büro zu Hause. Die ausschließlich ehrenamtlichen Mitarbeiter der Berliner Tafel sammeln überschüssiges Essen und verteilen es an soziale Einrichtungen in der Stadt. Anfangs sprang Werth selbst in ihre Hose, wenn nachts das Telefon klingelte und ein Buffetabräumungsangebot kam. Das findet sie auch gut so: „Viele gute Projekte sind daran gescheitert, daß zu viele Leute was wollen. Es schadet vielleicht nicht, wenn am Anfang einer alleine reinbuttert, das war in dem Fall ich.“

Angefangen hat alles, weil Sabine Werth ihr Ego stärken mußte. Sie wurde zunächst Mitglied in einem Elitefrauenclub. Da haben „mit Brillis behangene Damen ihren Sozialtick ausgelebt, politisch wurde wenig hinterfragt“. Eine Gesellschaft, in der man sich Sabine Werth mit ihrem praktischen Kurzhaarschnitt und den Turnschuhen nur schwer vorstellen kann. So wurde die Berliner Tafel auch schnell ein unabhängiges Projekt. Sabine Werth will damit auf politische Fehlentscheidungen aufmerksam machen, unbequem sein. Mit heute 41 Jahren genauso wie damals, als ihr Vorgesetzter im Sozialamt eine Dienstaufsichtsbeschwerde am Hals hatte, weil die Praktikantin Sabine Werth einem cholerischen Vater ihre Meinung über das Kindersorgerecht verklickert hatte.

Sabine Werth ist der Archetyp der aufrechten Einzelkämpferin, ehrgeizig, aber gerecht. „Ich hatte mir vorgenommen, eine bessere Chefin zu sein, als ich sie je hatte.“ Unter einer guten Chefin versteht Sabine Werth eine, die ihre Leute dazu überredet, zu Hause zu bleiben, wenn sie sich am Telefon krank anhören, die Urlaubswunschtermine einrichtet und Vorschüsse gewährt. „Ausgeglichene Menschen machen ausgeglichene Arbeit, und damit kann ich ausgeglichen sein.“ So einfach ist das nämlich. Sabine Werth strahlt, als ob sie einen weiteren Beweis für das Funktionieren ihrer Arbeitstheorie liefern möchte, und gießt grünen Tee nach. Irgendwie schafft sie es, einem das Gefühl zu vermitteln, daß man selbst gleich morgen eine international erfolgreiche Bewegung zur Bekämpfung des Welthungers lostreten könnte.

Inzwischen gibt es fast hundert Tafeln in Deutschland, und darauf ist Sabine Werth stolz, denn schließlich sind alle Tafeln irgendwo ihre Kinder. Seit September 1995 gibt es auch einen Bundesverband. Den hat natürlich Sabine Werth gegründet, weil „es mal wieder Zeit war für was Neues“.

Die Mehrfachaktivistin arbeitet gerne parallel, ein Grund dafür, warum sie in dem neuen Büro alles unter einem Dach vereint hat: ihre eigene Firma, das Büro der Berliner Tafel mit Lagerplatz, einen Obdachlosen und drei Katzen, „weil die ein Zuhause brauchten“. In ihrer Wohnung, in der sie mit ihrer Freundin lebt, steht jetzt nur noch ein Anrufbeantworter, dafür hat sie auch dort vier Katzen.

Die Berliner Tafel ist ihr Hobby und ihre Herzensangelegenheit. Zwar will sie entbehrlich sein, doch gibt es ihr auch ein gutes Gefühl zu wissen, daß sie es nicht ist. Schon allein wegen des gefürchteten, konsequenten Auftretens der „Projektmutter“. „Ich bin bekannt dafür, daß mir niemand entgeht“, erklärt Werth, „wenn ich mir in den Kopf gesetzt habe, daß jemand da und da hingeht, dann macht der das auch.“

Gerade wenn man sie als etwas zu praxislastig abstempeln will, erzählt sie von ihrer Promotion zum Thema „Bürgerschaftliches Engagement – Ersatz oder Ergänzung professioneller Sozialarbeit?“. Die schreibt sie nun, da es schon wieder mal Zeit für etwas Neues war. Ihre Tendenz zur Workoholikerin habe sie jetzt aber im Griff, meint Werth. Unter anderem mit Meditation und Fußreflexzonenmassage. Doch gleich darauf erzählt sie vom Bund der Steuerzahler. Dem trat sie bei, weil sie sich als „mündige Bürgerin“ ja irgendwie gegen die Steuerverschwendung wehren muß – und wurde Vorsitzende des Verwaltungsrats. „Irgendwie bekomme ich immer die Führungspositionen, ich weiß auch nicht warum“, sagt sie ausnahmsweise mal ohne Überzeugungskraft. „Dieses Für-andere-was-Machen, das sagt sich immer so toll, man macht es immer auch für das eigene Selbstwertgefühl“, gibt sie dann lachend zu. Gut für alle anderen, wenn man seinem Ego derart soziale Ventile sucht.