Leben der Boheme

■ Underground zwischen Glanz und Gosse: Die Hamburger Kunsthalle zeigt Fotoarbeiten von Nan Goldin und der "Boston Group"

Es gibt Allianzen, die verblüffen. Daß ausgerechnet F.C. Gundlach als Kurator und Leihgeber eine umfangreiche Gruppenausstellung rund um die amerikanische Fotografin Nan Goldin ermöglichen würde, damit war nicht unbedingt zu rechnen: der Grandseigneur der deutschen Modefotografie und die amerikanischen Undergroundfotografen? Eine Konstellation, die der Hamburger Kunsthalle zur Zeit reges Publikumsinteresse beschert.

„Emotions & Relations“ – der Titel der 250 zumeist großformatige Arbeiten umfassenden Ausstellung, klingt ein wenig nach einem neuen Parfum. Tatsächlich hat der auf den ersten Blick amateurhafte, verhuschte Fotostil einer Nan Goldin noch vor dem Ritterschlag durch die Museen Einzug in die Werbefotografie gehalten. Die neueste Kampagne von Sisley's etwa kopiert unverhohlen Goldins Schnappschußästhetik: Zu sehen ist ein männlicher Rückenakt in einer häßlichen Duschkabine, daneben als formloser dunkler Fleck an der Badezimmerwand ein Herrensakko auf einem Bügel. Alles stimmt, der ungewöhnliche Bildausschnitt, der Gelbstich, das flaue Licht – wäre da nicht der kleine, aber übersehbare Sisley's-Anhänger am Sakko.

Eine weitere Undergroundbewegung, hat es den Anschein, steht im Begriff, kommerzialisiert zu werden. Wie unabhängig jedoch persönliche Haltung und Selbstbewußtsein vom sozialen Status sein können, wird in der Hamburger Ausstellung auf überraschend vielfältige Weise vorgeführt. Nan Goldin ist das Aushängeschild der in Europa erstmals im Zusammenhang gezeigten „Boston Group“. Spätestens seit ihrer New Yorker Retrospektive vor zwei Jahren gehört sie zu den Stars der amerikanischen Fotoszene. Das Publikum diesseits und jenseits des Atlantik hat sich allerdings lange schwer getan, ihrem sympathetischen Blick auf das Leben einer unterprivilegierten Boheme positive Seiten abzugewinnen. Ebenso verblüffend wie die schließlich doch noch erfolgte Anerkennung ist allerdings die Treue, mit der Goldin und ihre vier Studienfreunde von der „Boston School of the Museum of Fine Arts“ diesen Underground bis heute, also fast über zwei Jahrzehnte hinweg zum Gegenstand ihrer Arbeit gemacht haben. Mark Morrisroe freilich starb bereits 1989 im Alter von dreißig Jahren an den Folgen von Aids. Auch Nan Goldins Durchbruch gelang erst nach ihrem Drogenentzug 1988.

Goldins Fotos aus den neunziger Jahren erscheinen weniger chaotisch, aber desto beeindruckender in der Farbgestaltung. „Gina at Bruce's Dinner Party“ von 1991 ist zudem eine der wenigen ironischen Arbeiten dieser Fotoschau: Eine Asiatin undefinierbaren Geschlechts sitzt abgekämpft unter einem billigen Kunstdruck von Caravaggios „Bacchus“ – eine Bacchantin, der man die Last des Rausches ansieht. Darüber hinaus lassen neuere Landschaftsaufnahmen in ihrer jugendstilhaften Anmutung eine Absage an den inzwischen von manchen Galeristen gewünschten Drogenchic erkennen.

Neben Goldins emotionalem Stil wirken die Arbeiten ihrer vier (durchweg homosexuellen) Kollegen artifizieller. David Armstrong ist so etwas wie ein romantischer Mapplethorpe. Im Zentrum seiner klassisch aufgebauten Schwarzweißporträts stehen die Augen, der Blick der Porträtierten, der Moment, in dem sie ihren Widerstand gegen den Akt des Fotografiertwerdens aufgeben. Gleichwohl bewahren Armstrongs Modelle eine letzte Reserve beim Blick in die Kamera. Wohl nicht zufällig ist sein Lieblingsgenre der Halbakt: Bei aller Entblößung bleibt ein schützender Rest.

In scharfem Gegensatz zu Armstrongs Schwarzweißaufnahmen steht die die grelle Farbigkeit von Jack Piersons Arbeiten. Ob Porträt, Akt oder Blumenstilleben – hier wirkt alles, als sei es aus quietschbuntem Plastik. Piersons künstliche Wunderwelten, wird er im Ausstellungskatalog zitiert, „sollen mich glauben machen, daß mein wirkliches Leben mehr ist, heller, mehr schöne Momente hat als in Wirklichkeit“.

Die beiläufigste Form von Glamour gelingt Philip-Lorca diCorcia. Seine Straßenszenen zeigen eilige Passanten an belebten Plätzen. Anders als in der traditionellen Reportagefotografie inszeniert diCorcia zufällig ins Bild geratende everyday people wie Filmstars. Einzelne Personen werden durch zusätzliche Lichtquellen aus der anonymen Menge herausgehoben. Es läßt sich allerdings nicht erkennen, wodurch diese „wichtig“ fotografierten Passanten sich von ihren Nachbarn unterscheiden. Hier ist Glamour akzidentiell und keine Frage der Haltung.

Beflügelt durch die späte Anerkennung haben die vier überlebenden Fotografen in den neunziger Jahren zu einer Vereinfachung ihrer Bildsprache gefunden. Der experimentelle Charakter im Werk des verstorbenen Mark Morrisroe springt hierdurch desto deutlicher ins Auge. „Sein Leben war geprägt von der Vorstellung, auf der Seite der Verlierer zu stehen“, heißt es im Katalogtext. Die meisten seiner technisch aufwendigen Fotos machte er mit betont krakeligen Bildlegenden zur Karikatur von Kunst. Das schönste Bild der Ausstellung ist von ihm, „Fascination“: Ein Mann liegt, umringt von aufmerksam lauernden Katzen, auf einem Bett. Hoch oben auf seinem ausgestreckten Arm hockt ein kleiner Vogel, unbeeindruckt. Reinhard Krause

„Emotions & Relations“, bis 1.Juni, Kunsthalle Hamburg; Katalog im Taschen Verlag, Köln 1998, 200 Seiten, 29,90 Mark