Auf der Suche nach dem verlorenen Gedächtnis

Bei Bockwurst und Soljanka diskutierten französische und deutsche Historiker im brandenburgischen Genshagen über Gedenktage und Erinnerungsorte. Den Weg zu einer gesamteuropäischen Geschichtskultur konnten und wollten sie nicht weisen  ■ Von Ralph Bollmann

In ganz Europa waren die achtziger Jahre das Jahrzehnt der historischen Erinnerung. Die Deutschen in West und Ost begingen das Lutherjahr, die Franzosen feierten das „Bicentennaire“ ihrer „Großen Revolution“, und die Polen in den Westgebieten entdeckten die deutsche Vorgeschichte ihrer Dörfer und Städte.

Die professionellen Historiker hatten diese Entwicklung keineswegs angestoßen, im Gegenteil: Sie hinkten ihr hinterher. Glaubten sie doch, der Modernisierungsprozeß habe die populäre kulturelle Erinnerung ausgelöscht und der wissenschaftlichen Geschichtsforschung das Deutungsmonopol überlassen. Doch mit der Verspätung eines Jahrzehnts hält der Schlüsselbegriff der „Erinnerung“ nach einem Umweg über die modischen Kulturwissenschaften auch bei den weniger trendbewußten Historikern Einzug.

So waren es in Deutschland zunächst der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann mit seiner Arbeit über „Das kulturelle Gedächtnis“ und die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann mit ihrem Buch über die deutsche Bildungsidee als „Arbeit am nationalen Gedächtnis“, die das Thema auf die Agenda setzten. In Frankreich folgte Pierre Noras dreibändiges Inventar der „Lieux de mémoire“. Und plötzlich findet sich mit Reinhart Koselleck just ein Historiker, der sich um Moden nie scherte, an der Spitze der Bewegung wieder. Seine Untersuchungen zur „politischen Ikonographie des gewaltsamen Todes“ liegen voll und ganz im neuen Trend.

Jetzt haben deutsche und französische Wissenschaftler auf einer Tagung versucht, die Debatte auf eine europäische Ebene zu heben. Im brandenburgischen Genshagen, wenige Kilometer südlich von Berlin, diskutierten sie bei Bockwurst, Schnitzel und Soljanka über „Gedenktage – lieux de mémoire“. Das dortige Gründerzeitschlößchen, bis 1945 Sitz des tiefbraunen Barons von Eberstein, hat sich nach der Wende zum „Berlin- Brandenburgischen Institut für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in Europa“ gemausert. Als Direktoren fungieren die weltgewandte Präsidenten-Dolmetscherin Brigitte Sauzay aus Paris und der vergleichsweise spröde Historiker Rudolf von Thadden aus Göttingen. Er wertet es als Zeichen besonderer Verbundenheit des Instituts mit dem brandenburgischen Umland, daß „Helferinnen und Helfer aus dem Dorf“ in der Küche schuften dürfen.

Die Gäste hingegen schlafen im benachbarten Großbeeren, wo ein monströses Denkmal von 1916 an eine Schlacht gegen Napoleon erinnert – ein „lieu de mémoire“ par excellence. Und eine Ironie der Geschichte: Auch im monarchischen Preußen setzte sich jener „republikanische Totenkult“ durch, der nach der Französischen Revolution den gewaltsamen Tod in der Schlacht zur nationalen Legitimitätsgrundlage erhob. Noch lange blieben aber die Gräber der „unbekannten Soldaten“ im Schatten der Könige, wie Reinhart Koselleck eindrucksvoll belegte: In Rom bewacht der Einheitskönig Viktor Emanuel II. den toten Untertan, in Wien umgeben mit dem Erzherzog Carl, dem Prinzen Eugen und der Kaiserin Maria Theresia gleich drei Aristokraten die Gedenkstätte im Burgtor. Solche Sinnstiftung, sei sie monarchisch oder republikanisch, mußte im 20. Jahrhundert jedoch der Suche nach Sinn weichen. Schon 1875 hatte Auguste Rodin seinem Krieger in Erinnerung an den Deutsch- Französischen Krieg die Speerspitze abgebrochen, auch Wilhelm Lehmbrucks Soldat von 1916 trug nur noch den Stummel eines Schwerts.

Entsprechend skeptisch zeigten sich die Experten gegenüber Versuchen, mit gemeinsamen Gedenktagen eine gesamteuropäische Sinnstiftung zu oktroyieren. Zwar legte der Berliner Historiker Reinhard Rürup gleich einen ganzen Katalog von Gedenktagen vor, der vom Edikt von Nantes 1598 über den Sturz Metternichs 1848 und die beiden Weltkriege bis zum Jahr 1968 reichte. Doch Koselleck warnte vor einem „Minimalkonsens, der nichts kostet“, der Kulturwissenschaftler Heinz Kittsteiner aus Frankfurt an der Oder führte den 3. Oktober als Menetekel eines „künstlichen Gedenktags“ vor, „der niemals jemanden interessiert“.

Vor allem aber bleiben die Historiker mißtrauisch gegenüber einem populären Gebrauch von Geschichte, der ihrer Kontrolle zu entgleiten droht. „Eine ehrenwerte Botschaft ist immer komplex“, warnte Maurice Agulhon vom Collège de France, „sie ist einem breiten Publikum nur schwer zu vermitteln“.