Die ganze Alltäglichkeit der Armut

■ In dem vielfach prämierten Dokumentarfilm Auf der Kippe zeigt der Hamburger Filmemacher Andrei Schwarz das Zusammenleben in einer rumänischen Barackensiedlung aus der Nähe

Der Anfang führt auf eine falsche Fährte und ist doch ein nötiger Umweg. In schwarz-weißen Bildern verfolgen wir eine Reihe noch unbekannter Menschen auf einem Berg von Müll. Dunst und Nebel liegen über der Szenerie. Schwärme von Krähen unterstützen die seltsam schöne Entrücktheit. Zeitlos, in jedem Fall auf eine Art fremd wirken diese Bilder, und doch haben wir es hier zu keiner Zeit mit einem pittoresk-filmischen Elends-Tourismus zu tun. Im Gegenteil: Eben dieses schwarz-weiße Fremde wird nach wenigen Minuten seine Farbe gewinnen, uns systematisch näher kommen und uns damit zugleich mit unseren eigenen Erwartungen konfrontieren. Die Erzählerstimme kommentiert: „Sobald es friert, stinkt der Müll nicht mehr, sagen die Leute auf der Kippe. Dabei habe ich noch Glück. Vor einer Woche waren es noch minus 20 Grad, jetzt nur noch die Hälfte.“

Diese von Andrei Schwarz eingesprochenen Off-Texte legen von Anfang an die Hintergründe und die Entstehungsgeschichte von Auf der Kippe dar. Über ein halbes Jahr hat der Hamburger Filmemacher mit seinem kleinen Team in „Dallas“, einer Zigeuner-Siedlung am Rande der Müllkippe des rumänischen Cluj (Klausenburg), gelebt und gedreht. Aus über 200 Stunden Material entstand ein Film von 75 Minuten, der Ende 1997 in Amsterdam mit dem Joris Ivens Award, dem bedeutendsten europäischen Preis für Dokumentarfilme, ausgezeichnet wurde und vor acht Wochen in Toronto als bester ausländischer Film mit dem Blue Ribbon Award geehrt worden ist.

„Dallas“ heißt die Barackensiedlung, weil – so erklärt es Lena – einer mal gesagt hat: „Wie die in Dallas habt ihr euch hier versammelt.“ „Hier“ begegnen wir z.B. Dica, der Großmutter, und ihrer Chronik des Unrechts, das ihr Leben ist, der 13jährigen Clula, die als Schwester zugleich Mutter ihrer Brüder ist, und den Kindern Ann, Gabi, Niculajc und Aurel, die zusammen eine ganze Nacht auf der Kippe für umgerechnet drei Mark arbeiten. Die Summe ist entscheidend. Die Frage nach Geld und Essen stellt Auf der Kippe so regelmäßig und eindeutig, daß ein rührendes Bild der Armut als Gemeinschaftsschicksal unmöglich wird. Immer wieder: „Was habt ihr heute verdient?“ „Wie arbeitet ihr im Dunkeln?“ „Wieviel Geld habt ihr noch bis zur nächsten Fuhre?“ Die Normalität des Elends offenbart sich dabei gerade durch die Ausflüge in die nahe Stadt. Mit ihnen hebt Auf der Kippe endgültig die Unwirklichkeit dieser ausgegrenzten Gemeinschaft auf und bringt sie in die Welt zurück.

Dieses Insistieren auf eine möglichst offene Darstellung der Verhältnisse ist zugleich Ausdruck einer Methode von Auf der Kippe, die aus Anteilnahme besteht. Anteilnahme in jeder Form – der des Begleitens der alltäglichen Abläufe, des Einblicks in familiäre Dramen, der offenen Benennung der Strategie der politisch Verantwortlichen und der Beobachtung von Bräuchen, kulturellen Identitäten und deren Veränderungen. Anteilnahme aber meint hier auch das systematische Vermitteln der eigenen Anwesenheit. Auf der Kippe erzählt permanent von der Einflußnahme der Filmemacher auf das scheinbar so authentische Leben in der Siedlung. Am Ende werden wir Andrei Schwarz dabei beobachten, wie er seine Darstellerinnen und Darsteller ausbezahlt.

Diese Form des filmischen Selbstbewußtseins ist nicht nur für die Frage nach den Möglichkeiten dokumentarischen Arbeitens im Kino interessant. Vielmehr vermittelt sich gerade über die Offenlegung der Produktionsverhältnisse auf allen Seiten die Nähe zu den Menschen in Dallas. Wir sind nicht Zuschauer einer sich als real gerierenden Inszenierung, sondern selbst Teil des Prozesses, von dessen Auswirkungen wir Zeuge werden. Genau weil sich die Kamera immer schon als Teil des Bildes vermittelt, kann sie sich auf eine Weise zurückhalten, die den Menschen von Dallas und ihren Geschichten Raum gibt, ohne sie als Opfer und „im Recht“ zu zeigen. Diese Form der Anteilnahme hat vor allem mit Respekt zu tun – und mit der Thematisierung von Vereinnahmung. Jan Distelmeyer täglich, 19 Uhr, Abaton