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Vater ist unscharf

Und ein bißchen gereizt ist er auch: In „Harry außer sich“ läßt Woody Allen sich in multiple Persönlichkeiten dekonstruieren. In seiner Welt geht es rauh und sexy zu  ■ Von Mariam Lau

Die Dekonstruktion trat etwa zur selben Zeit auf den Plan wie Cola light. Entwicklungsländer, China zum Beispiel, kriegen heute schon beides gleichzeitig geliefert. Dabei weiß niemand so genau, was es mit diesem Exportschlager aus Frankreich eigentlich auf sich hatte. Es hatte doch ganz harmlos mit einer Sprachtheorie begonnen, sich aber dann zu einem Sturmangriff auf die Bastionen des abendländischen Denkens ausgewachsen. Haßobjekt Nummer eins war der Dekonstruktion das sogenannte bürgerliche Subjekt, mit seinen Phantasmen von Identität, Realität und Einteilbarkeit der Welt in ordentliche Portionen von ich und du, Mann und Frau, Körper und Seele, Natur und Kultur – dem klassischen Roman- und Filmstoff also. Was dem Hollywoodfilm sein „boy meets girl“, ist für den Dekonstruktivisten nurmehr „boy“ „meets“ „girl“. Und da sowohl „boy“ als auch „girl“ Fiktionen, soziale Konstruktionen sind, können sie nie zueinanderkommen; endlos kreist ihr armes Begehren um eine Leere – ein Melodram also, im Vergleich zu dem „Vom Winde verweht“ geradezu glücklich verläuft.

Von dem Einfluß, den die Theoretiker des Dekonstruktivismus auf die Alltagskultur hatten, kann Jürgen Habermas nur träumen. Jacques Lacan, Jacques Derrida und Michel Foucault haben eine ganze Generation amerikanischer Akademiker sexuelle Mores gelehrt (erfinde dein Geschlecht täglich neu und laß deinen Nächsten seins erfinden), die sich mittlerweile bis in die entlegensten Gegenden von Ohio vorgefressen haben. Jede Nachtclubschranze in Las Vegas weiß heute ihren Striptease mit ein paar wohlgesetzten Bemerkungen über die soziale Konstruiertheit des Geschlechts zu schmücken und erhöht so den Überraschungseffekt angesichts der zuletzt enthüllten biologischen Gegebenheiten. Die Erfolgsgeschichte der Dekonstruktion ist um so verblüffender, als dekonstruktivistische Texte ja nun wirklich keine Bedienungsanleitungen enthalten und überhaupt sich nicht durch Leichtverständlichkeit verdächtig machen wollen. Trotzdem sind gerade die geschraubtesten Formulierungen, ihre Laubsägearbeiten am Wort, heute längst als ready-mades jedem besseren Feuilletontext zuhanden. Das „kreisende Begehren“, die „gekreuzte Leere“, die „Spur“, das disloziierte Subjekt, das „Wiedereinschreiben“ in den „Körper“ – diese Kathederblüten gehören mittlerweile in jeden Haushalt. Man stelle sich eine Milliarde kreisender chinesischer Begehren vor!

Witze über desolate Subjekte und kreisende Begehren sind seit Jahr und Tag Woody Allens Metier. Schon in seinem ersten Film, „What's Up, Tiger Lily“, 1966, dekonstruierte er einen japanischen Actionfilm durch Unterlegen amerikanischer Stimmen, die den sogenannten Subtext („Ich möchte Sie reiten!“) rücksichtslos in die Welt hinausposaunen. In seinem neuen Film „Deconstructing Harry“ – mit „Harry außer sich“ ausnahmsweise einmal überzeugend ins Deutsche gebracht – fächert er ein ganzes Spiegelkabinett von Personen, von „Ichs“ und „Dus“ auf, die teils dem realen Leben, teils der Imagination des Schriftstellers Harry Block entsprungen sind. Dieser leidet, wie sein Name schon sagt, an einem akuten Fall von Schreibblockade, was dazu führt, daß alle, alle, alle seine Figuren, von Larry bis Lucy, von Grace bis Burt, von Lily Chang bis Rosalee, über ihn herfallen. Sie, seine Alter egos, werfen ihm vor, ihre Leiden schriftstellerisch ausgebeutet, ihre Liebe verraten und ihr Vertrauen hintergangen zu haben. Ich ist ein anderer, und plötzlich hat er deine Telefonnummer.

Der Ton, der ganze Film, ist rauher und sexyer als der liebliche Vorgänger „Everyone says I love you“. Flogen da die Liebenden noch wie bunte Engelchen unter den Pont Neuf herum, schmoren sie hier in einer rotglühenden B-Picture-Hölle mit Whirlpool, in der Billy Crystal der Chef ist. Die zarten Liebeslieder machen hier eilig-deftigen Sexszenen unter den Augen nichtsahnender blinder Großmütter Platz, die das heftige Stöhnen mißdeuten („na, soooo gut sind Oliven nun auch wieder nicht“). Statt sich zu beturteln, schreien sich die Paare mit groben Worten heiser. Die deutsche Synchronfassung haut einem auch unerbittlich jedes „fucking“ als „Scheiß“ um die Ohren, eine „deranged cunt“ als „meschuggene Votze“ und so weiter. Mitunter schleicht sich der Eindruck einer gewissen Gereiztheit ein. Sollte Woody Allen sich fühlen, wie sein Harry Block es im Film gegenüber seinem Analytiker beschreibt: „Ich bin drei Frauen und sechs Psychiater älter, und nichts hat sich geändert“?

Aus dem Porträtfilm „Wild Man Blues“ zeigt sich nämlich, daß Soon Yi, Mia Farrows Adoptivtochter und Woody Allens jetzige Frau, eigentlich gar nicht die lustige, sanfte Asiatin ist, die man ihm wünschen wollte, sondern, wenn Sie mich fragen, ebenfalls eine ziemliche Zicke, wenn auch einstweilen noch auf die nette Art. „Die Leute hier interessieren sich doch überhaupt nicht für deine Musik“, sagt sie ihm lächelnd, als er erschöpft von einem Auftritt kommt. „Sie kommen, weil sie dich aus dem Kino kennen. Aber was ich dir schon länger mal sagen wollte: Du solltest nicht immer nur zu dem Bandleader sprechen. Immer hältst du dich an die Autoritätsfiguren. Rede doch auch mal mit den anderen Musikern! Lob sie doch auch mal, das mögen die Leute!“ Oha. Schon möglich, daß sich nach all den Kampagnen, die der „Kinderschänder Allen“ über sich hatte ergehen lassen müssen, nun die Enttäuschung darüber breitmacht, aus irgendeinem vertrackten Grund noch immer nur auf den gleichen Typ Frau zu treffen, ob blond, ob braun...

Jedenfalls bewährt sich auch bei „Harry außer sich“ die nummernhafte, mehr am Aufbau von Marx- Brothers-Filmen oder der Stand- up-Comedy geschulte Struktur, die schon das Musical hatte. Die Rumpfgeschichte heißt: Harry soll von seiner alten Universität geehrt werden, und er findet niemanden, der ihn begleitet. Von ihr zweigen dauernd kleine Kurzgeschichten ab, inszenierte Einfälle, von denen einige so komisch sind, daß manche Leute sich nach der Pressevorführung im Affekt viel zu teures Schuhwerk kauften vor Begeisterung. Der Witz entsteht dabei oft schon aus der Besetzung. Bekanntermaßen ist die Crème Hollywoods seit einigen Jahren gern bereit, bei Woody Allen für eine Gage aufzutreten, von der sie nicht einmal ihre Portokasse finanzieren könnte. Demi Moore beispielsweise spielt hier Harrys Romanfigur Helen, eine nur dürftige Verkleidung seiner dritten Ehefrau Joan, die ihrerseits mit wunderbar heiserer Stimme von Kirstie Alley gespielt wird. Demi Moore also, letztens erst als G.I. Jane zu sehen, wird hier nicht nur zur Analytikerin – was schon grotesk genug ist –, nach der Geburt ihres Sohnes Hillard findet sie auch noch zum jüdischen Glauben zurück, frisiert sich die Haare im braven, neoorthodoxen Stil und hält sich zum Sabbat ordnungsgemäß die Augen zu, während sie das Gebet spricht. Robin Williams ist Mel, der Schauspieler, der während der Dreharbeiten unscharf wird. Die Schauspieler neben ihm sind für den Kameramann noch prima zu erkennen, nur Mel verschwimmt. Man rät ihm, nach Hause zu gehen und sich etwas hinzulegen. Als er zu Hause in die Tür tritt, müssen auch seine Kinder mit den Augen kneisten. Feixend rufen sie: „Daddy ist unscharf“ (auf englisch „soft“, auch als Anspielung auf seine Potenz deutbar), worauf es heißt, „ruhig, Vater kann das jetzt nicht brauchen“. Ein Arzt verschreibt der ganzen Familie dicke Hornbrillen.

Der Witz dieses Besetzungsspektakels entsteht aus dem Clash zwischen Gehobenem, Erhabenem, Ernstem und Profanem, genau wie in „Ich glaube an ein intelligentes Wesen über der Erde, außer über bestimmten Teilen von New Jersey“. Psychoanalyse und G.I. Jane, der Teufel und Billy Crystal, der Papst und ein Staubsauger, der Holocaust und ein Dosenöffner – alles gerät ins Stolpern. Vielleicht ist das Dekonstruktion.

Richtig aufatmen kann man aber in diesem wie in den meisten Woody-Allen-Filmen, wenn nicht Paare zusammenkommen – was immer nur ins Desaster führt –, sondern ganze, unübersichtliche Gruppen aus Geliebten, Tanten, Freunden, Kindern, die sich unübersichtlich mögen. Am besten ist das in der Schlußszene von „Eine Sommernachtssexkomödie“ zu sehen, in der die Feriengäste gemeinsam durch eine Zauberlampe schauen, durch die man weit draußen in der Ferne ein Paar erkennen kann. „Hier drinnen haben wir es besser“, murmelt einer. Wenn alle zusammen sind, kommt das Begehren erst so richtig ins Kreiseln! Den Weg zu seiner Ehrung legt Harry Block mit einer schwarzen Nutte namens Cookie („mit Nutten mußt du nicht erst ewig über Proust reden“), seinem Sohn Hilly und seinem herzkranken Freund Richard zurück. Sie halten auf einer Kirmes, kichern, rauchen, trinken Cola light und singen sich eins.

„Harry außer sich“. Buch und Regie: Woody Allen. Mit: Woody Allen, Billy Crystal, Demi Moore, Kirstie Alley, Judy Davis, Eric Bogosian, Robin Williams u.v.a. USA 1998, 95 Min.

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