■ Es nutzt nichts, Verbrechen stets dem Fremden zuzuschreiben
: Zum Beispiel Doberstau

Vielleicht werden sie nun etwas kleinlauter sein. Denn wenn die Bewohner im sächsischen Doberstau heute ernst nähmen, was sie Tage zuvor in Reportermikrofone diktierten, müßten sie mit Transparenten vor ein Haus in ihrer eigenen Mitte ziehen. Nachdem die elfjährige Christina auf grausame Weise getötet worden ist, müßten die Menschen in Doberstau jetzt den Tod eines zweiten Kindes fordern, den des sechzehnjährigen Dorfjungen D.

Der Junge hat den Mord gestanden, den die Doberstauer in ihrer Vorstellungskraft nur einem unbekannten Triebtäter zuschreiben konnten. Lautstark hatten viele Dorfbewohner für den Mörder das Fallbeil gefordert. Jetzt ist der Ort zum Anschauungsbeispiel geworden für die Schwierigkeiten, die es mit zu einfachen Lösungen gibt.

Vielleicht ist das Entsetzen vor Ort zu groß, um die Botschaft zu begreifen: Diese Gesellschaft tut sich keinen Gefallen damit, Verbrechen und Gewalt als etwas von außen in sie Hineingetragenes zu begreifen. Was von außen kommt, ist oft beängstigend, aber es entzieht sich unserem Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich. Das ist wohltuend entlastend, wie ein Horrorfilm, der sich ausknipsen läßt. Mit Entsetzen registrieren Medienforscher und Jugendkriminologen, wie Kinder in ihren Spielen immer häufiger brutale Videowelt mit Realität verwechseln, nur umgekehrt versucht die Erwachsenengesellschaft das Störende innerhalb der eigenen Mitte zum schlechten Fernsehprogramm zu erklären. Wenn es zu gruselig wird, schaut man einfach nicht mehr hin.

In der gleichen Woche, als die elfjährige Christina im sächsischen Doberstau ermordet wurde, sind in Bremen und Niedersachsen zwei Kinder inmitten einer Wohngegend sexuell mißbraucht worden. In beiden Fällen gingen Passanten, die von Spielkameraden der kleinen Opfer um Hilfe angefleht wurden, untätig weiter. Keine Zeit für Unvorhergesehenes, keine Zuständigkeit für den öffentlichen Raum außerhalb des privaten Fernsehzimmers. In Doberstau wissen einige jetzt im nachhinein, daß der sechzehnjährige D. seine Mordtat mehrmals angekündigt habe. Vielleicht haben sie ja auf die Fernbedienung gedrückt, nur die Realität lief weiter. Vera Gaserow