■ Schlagloch
: Lust auf Zukunft? Erst mal einen Schnaps! Von Klaus Kreimeier

„Das Milieu der Restauration interpretiert den sozialen und globalen Wandel eher als Krise und Gefahr denn als Chance und Einladung, die Lust auf Zukunft macht.“

Warnfried Dettling in

„Die Zeit“, 7.5. 1998

Warnfried Dettling lese ich immer wieder gern. Man gleitet sanft durch eine gepflegte Prosa, die sich weder selbstgefällig spreizt noch mit dem Lametta des Feuilletons behängt ist – eine Prosa, die ihre gediegene Herkunft nicht verleugnet, jedoch frei von Altfränkischem ist; die sich dem Neuen öffnet, ohne dem von den Talkshows unterwanderten new speak zu erliegen. Hier spricht ein Gebildeter, der aus seiner Bildung kein Aufhebens macht; ein bürgerlicher Intellektueller (gibt es diesen Typus noch?), der sich den Luxus leistet, nachzudenken, bevor er höflich seine Leser um ein paar Minuten konzentrierter Aufmerksamkeit bittet. Wie gesagt, ich lese ihn gern – und wenn ich ihn zu Ende gelesen habe, bin ich fast immer des Lobes voll, falte sorgfältig die Zeitung zusammen, verspüre ein sonderbar flaues Gefühl in Kopf und Magen und bin erst wieder einigermaßen drauf, wenn ich einen doppelten Cognac heruntergekippt habe. Wie kommt das?

Um das herauszufinden, habe ich mir Warnfried Dettlings letzten Aufsatz aus der Zeit vorgenommen, der „Koalition der Ideen“ betitelt ist und, grundsolide, einhält, was der Titel verspricht. Denn nicht um die klägliche Koalitionsmathematik der Parteipolitiker und ihrer leitartikelnden Nachredner in den Medien geht es dem Autor, sondern um einen neuen „Geist der Politik“, um die Ideenbildung einer „virtuellen“ Koalition über Parteigrenzen hinweg, die – wenn wir nur alle, Wähler und Gewählte, recht bei Verstande wären – die Verhältnisse zum Positiven wenden und „Lust auf Zukunft“ machen könnte. Wer hätte sie nicht gern – diese warm pulsierende, mit Lebensfreude gewürzte Lust auf den morgigen Tag, anstatt miesepetrig immer von neuem die Litanei von den steigenden Arbeitslosenzahlen herunterzubeten, den Verfall der Kultur zu bejammern oder gar – Gipfel der Schlechtgelauntheit – sich vor Scham Asche aufs Haupt zu streuen, wenn Guildo Horn für Deutschland über die Bühne hopst? Warnfried Dettling bringt dieses Beispiel nicht – aber er tadelt eloquent jenes „Milieu der Restauration“, das im sozialpolitischen Bereich zum Beispiel von den Gewerkschaften repräsentiert wird. Jene träge „Gewohnheit der Herzen“, die von der Illusion der Vollbeschäftigung ebenso wenig Abschied nehmen mag wie von der behäbigen linksästhetischen Gepflogenheit, „im Kino immer wieder ,Casablanca‘ zu sehen“. Das ist spitzzüngig formuliert, kenntnisreich und voller Freude am Seitenhieb auf ein in der Tat unerträglich saturiertes Milieu.

Und doch: Warum bleibt ein fataler Beigeschmack zurück, wenn unser Autor mit all den reaktionären Verträumtheiten in unserer Gesellschaft, mit den spießigen Reliquien der goldenen Jahre, mit der „Tugend der Langsamkeit“, mit der so populären Behutsamkeit und der verbreiteten „Vorsicht vor Abrißvorhaben“ gründlich aufgeräumt hat? Wenn er frohgemut an die Architektur seiner „virtuellen Partei“ geht, an die er alles delegiert, was die Deutschen in ihrer traumseligen Schusseligkeit bisher verabsäumt haben: den Mut zum „Übergang in eine neue Zeit“, die Bejahung der „Epochenschwelle“ und die Courage, nun endlich anzupacken, was andere schon längst im Griff haben: Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung und demographischen Wandel?

Ich bin nicht unbedingt für übertriebene semantische Pedanterie – aber ich stutze, wenn ein so versierter politischer Autor wie Warnfried Dettling urplötzlich einem expressionistischen Vokabular verfällt und die „Epochenschwelle“ anruft, die „Zeiten“ überhaupt, die sich „grundstürzend ändern“. Das grummelt irgendwo zwischen Richard Wagner und Ernst Toller, zwischen Nietzsche, Bauhaus und konservativer Revolution, die ein Aufgeklärter wie Dettling nun wirklich nicht im Schilde führt. Und doch stellt sich die Frage: Warum diese vage, aber um so dramatischere Terminologie? Hier will jemand offenbar etwas ganz Neues, Zukunftshaltiges aufbauen und obendrein unsere Vorfreude darauf stimulieren – damit wir endlich aufhören, unseren „Demonstrationen für die Rechte der Schwachen“ nachzutrauern und unserem biedermeierlichen Fimmel, im Kino zum 27. Mal „Casablanca“ anzusehen.

Gespannt auf die Zauberformel, die nach so viel effektvoll inszenierter Absage an den „alten Konsens“ dem Neuen die Bahn frei machen wird, stolpert der Leser in den Abgrund jenes verschlissenen Politologenkauderwelschs, das längst die Vor- und Nachdenker aller Parteien nachplappern. Um „zu neuem Leben“ zu erwachen, müsse dieses Land nur die Kraft finden zu „strukturellen Reformen“. Unversehens mutiert unser Autor zu einem rhetorisch erschlafften, wenngleich noch immer redseligen Schamanen. Ausführlich ergeht er sich nun – recht überraschend nach dem vorausgegangenen Theaterdonner – über die Segnungen von trial and error, Dezentralisierung und „kleinräumigen Lösungen“ – Erkenntnisse also, die man bisher eher bei den Alternativen, den Behutsamen und notorischen Bremsern vermutet hätte. Dann springt er nach Amerika und behauptet kühn, dort sprudele mittlerweile auch aus konservativen Quellen massenhaft Geld für Kindergärten und öffentlichen Nahverkehr. Der Leser freut sich – und fragt sich gleichzeitig: Was hat all dies zu tun mit Globalisierung, Digitalisierung und den neuen Idealen, die – so der nationale Trompetenstoß am Ende des Essays – „das deutsche Modell wieder stark und robust für das nächste Jahrhundert“ machen sollen?

Es geht mir nicht darum, süffisant einen intelligenten Text zu zerpflücken. Ich wollte nur herausfinden, warum ich, als nachgerade süchtiger Konsument Warnfriedscher Ideenstürme, regelmäßig ein flaues Gefühl in Kopf und Magen habe. Ich muß mich aus einer Depression herausreißen, aus jener nur allzu vertrauten Ernüchterung, die mich zum Beispiel nach den „Tagesthemen“ beschleicht, wenn ich drei Portionen Kohl, zwei Kilo Schröder und ein paar Gramm abgemagerten Joschka Fischer intus habe. Warnfried Dettling liefert einen brillant servierten Kohl/Schröder/Fischer-Cocktail, der sich besser liest als alles, was die Ghostwriter der Parteien, Gregor Gysi inklusive, auf die stilistische Waage bringen. Er verrührt, virtuoser als andere, die Ratlosigkeit der Politiker zu geschmeidiger Prosa. Und er blendet – wie die Politiker und wie wir alle – die Absurdität der Wachstumsphilosophie aus, die Katastrophe der fortschreitenden Umweltvernichtung – und das Elend der Milliarden Menschen, die auf diesem Globus keine Chance haben, jemals die Vorzüge der antiquierten „Arbeitsgesellschaft“, geschweige denn die der heute erforderlichen „strukturellen Reformen“ zu genießen. Dettling ist so ratlos wie wir. Und jetzt erst mal einen Schnaps.