Auf vier Bahnstrecken geht gar nichts mehr

■ Streikende in Rußland protestieren mit Gleisblockaden gegen ausstehende Löhne

Moskau (taz) – Die Lage in den kohlefördernden Regionen der Russischen Föderation wird von Tag zu Tag gespannter. Nicht nur streikende Bergleute, sondern mittlerweile Angehörige aller Berufe sitzen auf den Eisenbahngleisen. Sie protestieren nicht nur gegen um Monate verzögerte Gehaltszahlungen, sondern erheben zunehmend politische Forderungen.

Gestern waren bereits vier der großen Eisenbahntrassen des Landes von Streikenden blockiert: die Transsib, die Nordkaukasische, Krasnojarsker und Nördliche Magistrale. 179 Güterzüge hatten die Protestierenden schon gestoppt. Passagierzüge auf der Transsib konnten noch umgeleitet werden, aber das Ende dieser Möglicheit zeichnete sich ab. An den Bahnhofsschaltern ganz Rußlands standen Massen von Reiselustigen Schlange, um gekaufte Fahrkarten wieder zurückzugeben.

Als letzte schlossen sich am Montag die Bergleute des Rostower Gebietes der Bewegung an und legten die Nordkaukasische Magistrale lahm – die überlastetste Eisenbahnstrecke der Russischen Föderation. Begonnen mit dem Mammut- Sit-in auf den Geleisen hatten vor sechs Tagen Bergleute, Lehrer und Ärzte in dem Ort Anschero-Sudschensk an der Transsib. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Bewegung von niemandem kontrolliert wird. Aus ganz Sibirien sind spontan zusammengestellte Lebensmitteltransporte zu den Streikenden unterwegs. Die selbst überraschten örtlichen Gewerkschaftsführer waren bisher zu Kommentaren nicht bereit.

Am Sonnabend war die Duma zu einer Notsitzung zusammengetreten und hatte Premier Kirijenko zum Erscheinen aufgefordert. Der kam, und das auch nicht unvorbereitet. Er schlug vor, den Haushalt des Parlaments, des Regierungsapparats und der Administration des Präsidenten um jeweils 25 Prozent zu kürzen und trieb damit die Deputierten moralisch in die Enge. Die Mehrheit erklärte sich mit dem Griff in die eigene Tasche einverstanden.

Bereits in der vergangenen Woche hatte der Premier 47 Millionen Rubel für Sommerurlaube von Bergleute-Kindern zur Verfügung gestellt. In Workuta, wo bei Temperaturen um Minus 15 Grad Hungersnot herrscht, hatten Kumpels in einem dramatischen Aufruf gefordert, ihre Kinder zu evakuieren. Durch seinen neuen Schachzug hat Kirijenko nun – zumindest auf dem Papier – 500 Millionen Rubel gewonnen. Angesichts einer Staatsschuld von 3,7 Milliarden gegenüber der kohlefördernden Industrie wirkt die Summe allerdings kaum tröstlich.

Ohnehin kommen die nachträglichen Lohnzahlungen auf der Prioritätenliste der Streikenden erst an dritter Stelle – nach der Forderung nach Rücktritt des Präsidenten und einer ökonomischen Umstrukturierung der Kohleregionen. „Die Protestaktionen könnte zu einer Situation ähnlich der des Jahres 1989 führen, als die Kumpels die Macht Präsident Gorbatschows erschütterten“, warnt der Gouverneur des Gebietes Kemerowo, Aman Tulejew: „Die Leute sind derart wütend auf die föderale Regierung und hegen soviel Mißtrauen gegen sie, daß sich dies alles in einer mächtigen Explosion entladen kann, deren Wellen bis nach Moskau reichen.“ „Uns reicht die Auszahlung eines Gehaltes“, sagte eine alte Frau auf den Gleisen bei Anschero-Sudschensk vor laufender Kamera. „Damit werden wir uns Waffen kaufen und den Rest selbst eintreiben.“ Barbara Kerneck