Opiumgeschwängerte Tagträume

Ein Akt der Versöhnung? Mit der Ausstellung „Eine Reise ins Ungewisse“ versucht die Neue Nationalgalerie einen Bogen von Arnold Böcklins Mystik zu den Surrealisten Max Ernst und Giorgio de Chirico zu schlagen  ■ Von Ulrich Clewing

Die junge Witwe wünschte sich ein Bild, und zwar nicht irgendeines, sondern „ein Bild zum Träumen“. Arnold Böcklin wußte, was von ihm erwartet wurde. Kurz vor Fertigstellung des Gemäldes versprach der Maler der begüterten Klientin in einem Brief, er habe dafür gesorgt, daß sie sich versenken könne „in die dunkle Welt der Schatten, bis Sie den leisen, lauen Hauch zu fühlen glauben, der das Meer kräuselt. Bis Sie Scheu haben, die feierliche Stille durch ein lautes Wort zu stören.“ Die „Toteninsel“ wurde ein voller Erfolg. Das Motiv der in einem Boot stehenden, ganz in Weiß gehüllten Figur, die sich bei Abenddämmerung einem zypressenbestandenen Felsmassiv nähert, fand soviel Anklang, daß Böcklin noch zwei weitere Fassungen herstellte.

In der jetzt in der Neuen Nationalgalerie eröffneten Ausstellung „Arnold Böcklin, Giorgio de Chirico, Max Ernst“ ist es die dritte Version aus dem Jahr 1883, die die BesucherInnen empfängt und einstimmen soll auf eine „Reise ins Ungewisse“, wie die Macher die aufwendig gestaltete Schau programmatisch-diffus untertitelt haben. Es ist das erste Mal, daß diese drei Maler so direkt einander gegenübergestellt werden. Im Fall von Böcklin und de Chirico, dem Erfinder der „pittura metafisica“, bietet sich der Vergleich an, schließlich wurde letzterer, obwohl mehr als sechzig Jahre jünger, nachweislich von dem 1827 in Basel geborenen Böcklin geprägt.

Um dagegen die Verbindung zu dem Surrealisten Max Ernst zu konstruieren, haben sich die Organisatoren der Ausstellung, die vom Kunsthaus Zürich konzipiert wurde und auch schon im Münchner Haus der Kunst zu sehen war, einiges einfallen lassen. Weil zweifellos Parallelen zwischen Böcklin und de Chirico bestehen und de Chirico seinerseits erwiesenermaßen Max Ernst nachhaltig beeinflußte, muß es, so die Argumentation, auch einen Zusammenhang zwischen Böcklin und Ernst gegeben haben. Anliegen dieser arithmetischen Kausalität und damit der ganzen, rund 180 Gemälde umfassenden Ausstellung ist, den ältesten der drei Künstler vom ideologischen Ballast zu befreien, der ihm aufgrund der Verehrung durch deutschnationale und später nationalsozialistische Kreise anhing, und ihn als einen Vorläufer des Surrealismus zu etablieren. Gleichzeitig, quasi als Umkehrschluß, soll aufgezeigt werden, daß der Surrealismus, Eckpfeiler der Entwicklung der Moderne, tief in der Romantik des 19. Jahrhunderts verwurzelt ist.

Ob das so stichhaltig ist, wie es die Museumsleute gerne hätten, sei einmal dahingestellt. Andererseits: Es ist ein Angebot, nicht mehr, nicht weniger. Und so wie die Bilder ausgewählt wurden, kann man die Verwandtschaft der drei nicht leugnen. Was Böcklin (gestorben 1901), de Chirico (1888 bis 1978) und Ernst (1891 bis 1976) am augenscheinlichsten gemeinsam haben, ist die Vorliebe für das Rätselhafte, Geheimnisvolle, Phantastische und Metaphysische. Dazu kommt ein Hang zur Melancholie, der insbesondere bei dem notorisch heiteren Max Ernst zunächst erstaunt, anhand von Arbeiten wie dem „Selbstporträt“ (um 1938), in dem Fotografie und die für den gebürtigen Rheinländer typische Frottage-Technik kombiniert werden, aber durchaus überzeugend belegt wird.

Am deutlichsten erscheint die düstere Grundstimmung freilich bei Böcklin. Nur oberflächlich im Akademismus der Zeit verhaftet, benutzte er die damals so beliebten antiken Szenen und mythologischen Figuren, um daraus – im übrigen keineswegs als einziger Künstler seiner Generation – eine ganz eigene mystische Welt zu schaffen. Ruinenromantik und symbolistisch angehauchte Darstellungen tun das Ihrige dazu, Fin- de-siècle-Atmosphäre heraufzubeschwören. Manche der Bilder wirken, als seien sie aus opiumgeschwängerten Tagträumen heraus entstanden. Von dort aus ist es nur ein kleiner Schritt zu den menschenleeren Stadt- und Traumlandschaften de Chiricos, deren Inventar sich, nebenbei bemerkt, auch in der Ausstellungsarchitektur wiederfindet.

Problematischer ist da schon die Beziehung zu Max Ernst. Es gibt in der Ausstellung eine Reihe von unmittelbaren Konfrontationen, die mal einleuchten und mal nicht. Am gelungensten ist die Kombination von Böcklins „Prometheus“ von 1882, de Chiricos gleichnamigem Bild aus den Jahren 1908/09 und Max Ernsts „Grätenwald“ von 1927. In allen drei Gemälden sieht man eine undurchdringliche, übermächtige, alles dominierende Natur, in der der Mensch zum Verschwinden verurteilt ist. Da bleibt kein Ausweg, keine Hoffnung, nichts von dem, was die industrialisierte Gegenwart beherrscht, hat mehr Gültigkeit.

Das mag eine Form von Eskapismus sein, auf jeden Fall ist es ein Charakterzug, der sich im Werk jedes einzelnen des Dreigestirns wiedererkennen läßt. Insofern ist „Die Reise ins Ungewisse“ der geglückte Versuch, die Koordinaten der Kunstgeschichte ein wenig zu verschieben und geistesgeschichtliche Bruchkanten zu glätten. Man kann es auch einen Akt der Versöhnung nennen.

Eine Reise ins Ungewisse“, bis 9. August, Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße. Der Katalog, 288 Seiten, kostet 39 DM.