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: Meisterdieb oder Idiot?

■ Richtiges Kino tut gut. Und ist ungefährlicher als echtes Leben!

John Boormans „The General“, die Geschichte des legendären irischen Diebes Martin Cahills, war die richtige Therapie. Denn am frühen Morgen war ich aufgewacht, und da stand am Ende meines Bettes ein junger schwarzer Mann. Das Wissen, daß etwas falsch ist, wenn sich außer mir noch ein anderes bewegliches Objekt/Subjekt in meinem Zimmer befindet, war, muß ich gestehen, einigermaßen unangenehm. Zumal der junge Mann mir gegenüber eine sehr unschöne Geste machte und das Bett entlang kam (das Hotelzimmer ist nicht gerade groß, daher war das unvermeidlich). Mist, dachte ich, das wird ein Horrorfilm, Aber dann war es nur ein Kurzfilm. Zwischen Bergen von Papieren und Klamotten hatte der Typ die Auswahl zwischen vier Taschen. Er schnappte sich die für den Computer und stieg höhnisch grinsend zum Fenster hinaus. Doch die Tasche war leer. Mein elektronischer ordinateur saß friedlich auf einem kleinen Sideboard.

Wäre der schwarze Mann ein legendärer Dieb gewesen wie „Der General“, den die IRA 1994 erschoß, weil er deren Terrain in seinen Raubzügen nicht respektierte, wäre es nicht ich gewesen, die zuletzt lachte. So habe ich mich bei Boorman bestens unterhalten. Wann kann man schon einmal aus beruhigender Distanz und dazu in schönster Schwarzweißfotografie sehen, wie die Sache sozusagen korrekt ablaufen sollte? Richtiges Kino tut gut.

Hal Hartley gehört – wie die meisten Wettbewerbsteilnehmer – zur Über-zwei-Stunden-Fraktion. Hätte er zu einer Stunde dreißig tendiert, hätte sein „Henry Fool“ brillant werden können. Es braucht so vieler Szenen nicht, um zu verstehen, daß der Anlaß seines Filmes der Mann ist, der nervt, der erst Angeber, dann Versager und schließlich Narr ist, den die Welt braucht, um in Bewegung zu geraten. Nach seiner Entlassung erfindet sich Henry Fool (Thomas Jay Ryan), der als Kinderschänder eingebuchtet war, neu. Als großer Intellektueller, dessen „Confessionen“ die Literaturgeschichte revolutionieren werden. Zunächst revolutioniert jedoch er das Leben des Müllmannes Simon (James Urbaniak), der sich als der wirklich geniale poète maudit erweist. Die Rollen tauschen sich, und am Ende ist Henry ein schlechter Autor, aber ein guter Mensch, Müllmann und wieder (vermeintlicher) Verbrecher. Merkwürdig: Gerade nach einem runden Film wie Boormans „General“, der in seiner Hauptfigur schon jenen neuen Iren antizipiert sieht, der jegliche Bigotterie gegenüber Vaterland oder Krone, Kirche und Partei missen läßt, mag man auch Lars von Trier. Das andere, rohe, experimentelle Kino, das Autorenkino, das die Dogma-Filme zwar nicht sein wollen, aber doch ganz und gar sind.

Trotz seines dünnen Stoffs – eine Gruppe junger Leute verbringt ihre Freizeit damit, den Idioten in sich und den Spießer im ahnungslosen Gegenüber zu entdecken – und einer braven moralischen Wendung am Ende, ist „Idioterne“ über weite Strecken hinweg einfach hinreißend frivol. Obwohl das offen und scheinbar völlig improvisiert in Szene gesetzte Gruppenspiel (samt Hardcore-Gruppensexszenen und ins Bild ragenden Tonangeln) stark nach 70er Jahre und Urschreitherapie mieft, setzt die Inszenierung dem Betrachter doch zu. Denn Trier gelingt es zu einem entscheidenden Grad, glaubhaft zu machen, daß den Spastiker zu spielen eine wichtige, weil poetische Erfahrung ist, eine lustige und mühsame Bewährungsprobe zugleich. Schließlich besteht sie eine Frau, die schwer deprimiert zur Gruppe gestoßen war. Anders als die anderen steckte sie tatsächlich in einer existentiellen Krise, als sie kam – sie war der Beerdigung ihres Kindes ferngeblieben. Brigitte Werneburg