Düstere Dekonstruktionen

■ Bristol calling: Massive Attack und Tricky bringen Kunst, Psychoanalyse und Rhythmen kurz vor dem Stillstand

Sie haben wirklich nicht die Absicht, allzu viel zu malochen. In den letzten zehn Jahren, erzählten Massive Attack der Süddeutschen Zeitung kürzlich, haben sie nur in paar Tage von morgens bis abends durchgearbeitet. Die Drei haben einfach keine Lust, erwachsen zu werden. So kann man sich wenigstens den ganzen Tag über neue Turnschuhmarken unterhalten. Das ist nicht weiter verwunderlich. Davon gibt es viele.

Doch diese drei Hänger veröffentlichten als Massive immerhin Blue Lines, eine Platte, die die Hälfte aller 30jhrigen zu ihrem Geburtstag auflegt. Danach haben sich Grant Marshall (Daddy Gee), Robert del Naja (3D) und Andrew Vowles (Mushroom) erst mal zum Videospielen und Faulenzen zurückgezogen. Drei Jahre später kam ziemlich unvermutet der Nachfolger Protection, eine bis zur Belanglosigkeit geschmäcklerische Soundtapete. Dann war erst mal wieder Funkstille in Bristol, einem behäbigen Städtchen im Südwesten Englands. Bis die TripHop-Patrons im Frühjahr dieses Jahres mit der Single „Teardrop“ auf der Matte standen, die von The Face gleich mit dem eigenen Klassiker „Unfinished Sympathy“ verglichen wurde. Auch wenn das ein bichen dick aufgetragen ist, gelingt es Massive Attack, auch mit dem Album Mezzanine sich selbst so lange aufzukochen, daß man fast wieder im ursprünglichen Sud watet. Da sind sie wieder diese verschleppten Rhythmen, die fast zum Stillstand kommen, diese fadenscheinigen Samplefetzen, die Strukturen nur andeuten. Mit der entrückten Stimme von Elizabeth Fraser, der ehemaligen Sängerin der Cocteau Twins, haben sie sogar eine Sängerin gefunden, die Shara Nelson adäquat ersetzen könnte. Und wenn alle Stricke reißen, grapscht sich Horace Andy das Mikrophon. Fast wieder die alten.

Aus ganz anderem Holz ist das ehemalige Massive Attack-Mitglied Tricky geschnitzt. Er ist ein Workoholic, der in einem Jahr auch Mal eine Platte und zwei EPs veröffentlicht. Systematisch dekonstruierte er auf Maxinquaye, Nearly God und Pre-Millennium Tension den jeweils vorhergehenden musikalischen Ausdruck und legte damit immer auch einiges von sich selbst offen auf den Seziertisch.

Bei Tricky liegen Psychoanalyse und Kunst so nahe beieinander wie bei wenigen. „Analyze me“ ruft er auch auf seinem neuen ebenso traumatischen wie dichten Album Angels With Dirty Faces der musikhörenden Welt zu und berichtet schonungslos von Momenten der Furcht. Dabei hat er mit der düsteren Diva PJ Harvey eine verwandte Seele gefunden, die seinen horrifizierenden Soundbrei mit verschmiertem Lippenstift in Worte fassen kann. Tricky, der sich auch auf der Bühne stets im Dunkeln aufhält, kann einem Angst machen.

Volker Marquardt

Massive, Hooverphonic: heute, 20 Uhr, CCH / Tricky: Freitag, 29. Mai, Markthalle, 21 Uhr