: Kein neuer Plan für Schulverbesserung – davon gibt es genug
■ Thema 8: Schulpolitik Einladung zur politischen Debatte: Eine parteiübergreifende Initiative präsentiert in der taz fachpolitische Konzepte als Angebote für öffentlichen politischen Streit
1. Kein neuer Schulverbesserungsplan
– „Solange ihr Bildung mit Laufbahn oder mit sozialpädagogischer Aufbewahrung oder mit der Sicherung des jeweiligen Industriestandortes verwechselt,
– solange ihr nicht seht, daß ihr von euren Bildungsanstalten Unmögliches verlangt: im Gestückelten den Zusammenhang, in der Abhängigkeit den Umgang mit der Freiheit, ohne Erfahrung den richtigen Gebrauch der Theorie, ohne gesellschaftliche Aufgabe gesellschaftliche Verantwortung zu lehren,
– solange ihr (vor allem sofern ihr Eltern seid) nicht wahrnehmt, was das Schulsystem euren Kindern antut: mit der ständigen Benotung, mit funktionalisierten und überlasteten Lehrern, mit der Fiktion der homogenen Klasse, mit der Dreigliedrigkeit (sprich, der Behauptung, diese werde der Verschiedenheit der Kinder gerecht) statt einer Dreihundertgliedrigkeit oder Dreitausendgliedrigkeit, mit dem 45-Minuten-Takt, mit den großen Lerngruppen und ihren notwendig kollektiven Verfahren,
– solange ihr das nicht wahrnehmt, ist die Krise noch nicht weit genug fortgeschritten.
Ihr werdet nicht nur in weitere Mittelbeschneidungen einwilligen, ihr werdet auch nicht merken, daß eure Kinder selbst dann noch die falsche „Bildung“ bekommen, wenn die Beschränkungenaufgehoben werden, ja, ihr werdet vermutlich auch mit den aufgezählten unpädagogischen und bildungswidrigen Maßnahmen zufrieden sein, wenn sie nur funktionieren.“
So skizziert Hartmut von Hentig am Ende seines Essays „Bildung“ (Hanser 1996) zutreffend die schulpolitische Lage.
Vor diesem Hintergrund werden wir keinen Schulverbesserungsplan mehr machen, davon gibt es genug. Wir werden kein Klagelied über die versandete Bildungsreform schreiben, die Melodie ist bekannt. Wir mögen auch nicht mehr über die Miseren des Schulwesens jammern, sie sind kein Geheimnis.
Stattdessen ist daran zu erinnern,
– daß Schulverbesserungspläne seit den Jahren der Reformpädagogik auf dem Tisch liegen, um über kurz oder über lang in der Versenkung zu verschwinden, und daß nicht einmal ein Hahn mehr nach ihnen kräht;
– daß es nur die „Schulreform von oben“ ist, die nicht vorankommt, während die „Schulreform von unten“ tagtäglich stattfindet. Denn es gibt keine Schule, in der nicht jeden Tag von neuem hinterfragt, diskutiert, konzeptualisiert, innoviert und auch evaluiert wird. Der schulische Alltag kommt ohne dieses engagierte Tun ungezählter Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Mütter und Väter gar nicht aus.
2. Schulreform von unten braucht ihre Zeit
Wem nützt es, aus diesem Alltagsgeschäft ein schulpolitisches Programm zu zimmern? Die Arbeit wird dadurch nicht leichter, das Geld nicht mehr – aber die Zeit, die investiert werden muß, damit der Alltag halbwegs gelingt, die wird davon nur knapper; denn dann muß ja noch mehr propagiert, organisiert, legitimiert und kontrolliert werden.
Was der „Schulreform von unten“ fehlt, ist nicht das Programm. Denn was getan werden muß, wissen die, die sie machen, recht gut. Wo die Grenzen des Machbaren sind, braucht ihnen niemand zu sagen. Was ihnen fehlt, ist die Zeit, ihr Tun und das, was dabei mit ihnen und anderen geschieht, zu reflektieren, zu den Fragen zurückzugehen, die ihr Tun auslöst, und den Weg zu imaginieren, auf dem sie weitergehen werden.
Es hilft nichts, in hektischer Eile ein neues Programm aufzulegen und es, kaum daß es da ist, durch die Mangel der Erfolgskontrolle zu drehen. Davon wird es nur platt.
Was hindert uns, den Schulen die Zeit zu lassen, die sie für die Entwicklung ihrer Autonomie brauchen, sie zur Wahrnehmung ihrer Möglichkeiten zu ermutigen, statt sie durch Vorschriften und Kontrollen zu entmutigen?
Liegt die schulpolitische Hektik nur an der Kürze unserer Wahlperioden? Wahrscheinlich nicht, denn der kurzatmigen Betriebsamkeit applaudieren ja auch viele, die sich gar nicht zur Wahl stellen.
Oft entsteht sie vielmehr auch aus den vielfältigen Projektionen, die die Schulen aushalten müssen. Je unsicherer die Existenz wird, desto massiver wird von den Schulen – ausgerechnet von den Schulen! – verlangt, daß sie die Zukunft garantieren. Vor zwanzig Jahren galten die Pläne noch der Schule im Jahre Zweitausend. Inzwischen haben die Erwartungen diese Schwelle längst überschritten, und eine Schule, die verbindlich zusagen könnte, daß sie die Heranwachsenden fit für das Jahr 2020 entläßt, bekäme prachtvolle Noten.
3. „Aufopferung des Moments“?
Vor über 170 Jahren dachte Friedrich Daniel Schleiermacher über die Zukunftsorientierung des pädagogischen Handelns nach. Eher beiläufig entdeckte er dabei, warum wir nicht zufrieden sein können mit der Erziehung, wie sie geschieht:
„Jede pädagogische Einwirkung stellt sich dar als Aufopferung eines bestimmten Moments für einen künftigen, und es fragt sich, ob wir befugt sind, solche Aufopferungen zu machen. Schon das allgemeine Gefühl spricht sich dagegen aus. Je positiver sich zu erkennen gibt, daß die Zöglinge die Erziehung, wie sie eben geübt wird, nicht wollen, je mehr sie widerstreben, desto mehr hält jeder die Erziehung für herbe und mißbilligt sie. Ob aber das Widerstreben mehr oder weniger hervortritt, ist gleich; die Sache bleibt dieselbe.“ (Pädagogische Vorlesungen, 1826).
Wenn stimmt, was Schleiermacher hier feststellt, dann wird das Unbehagen an der Schule und sogar ihre Mißbilligung anhalten – egal, welche Reformmaßnahmen ihr verordnet werden. Solange wir Schulkarrieren mit Zukunftsgarantien verwechseln, wird Bildung auf der Strecke bleiben. Genauso lange werden wir diejenigen, die das pädagogische Geschäft betreiben, für die Auslöser dieses Unbehagens halten und zu Sündenböcken erklären. Denn sie können der künftigen Generation jene Zukunftsgarantien nicht geben, die wir uns für sie wünschen. Schulen sind Bildungsstätten, keine Fitness-Center.
Schleiermachers Frage hat eine grundsätzliche Dimension:
„Darf man überhaupt zugestehen, daß ein Lebensaugenblick als bloßes Mittel für einen anderen diesem anderen könne aufgeopfert werden? (...) Es ist eine bestimmte ethische Aufgabe im Verhältnis der Gesamtheit zu dem Einzelnen, daß jeder Lebensmoment als solcher gefördert werde. (...) Wird nun aber ein Moment einem anderen in der Zukunft liegenden ganz aufgeopfert, dann ist die ethische Aufgabe ungelöst geblieben. – Wie soll man aus dieser Disharmonie herauskommen?“
Schleiermacher unterstrich die Dramatik seiner Frage, indem er seine Zeitgenossen daran erinnerte, daß das Lebensalter der Erziehung zugleich das Lebensalter mit der höchsten Sterblichkeit war. Wir hätten heute auf andere Risiken hinzuweisen, um daran zu erinnern, daß nicht sicher ist, ob die Heranwachsenden die Zukunft erleben, auf die sie vorbereitet werden. Doch Schleiermachers Folgerung bleibt unvermindert aktuell:
Die Erziehung muß, auch wenn sie sich auf die Zukunft bezieht, den Heranwachsenden zu einer befriedigenden Gegenwart verhelfen. Ähnlich der Musik geschieht Bildung in der Einheit von Spiel und Übung. Sie bedarf des Ausdrucks in der ernstgenommenen Tätigkeit der Schülerinnen und Schüler. Erst dann gilt: „Der Zögling würde in jedem Augenblick als Mensch behandelt werden.“
Es ist müßig, darüber zu spekulieren, mit welchen Schulkenntnissen, Schulfähigkeiten, Schulfertigkeiten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene für die Zukunft ausgestattet werden müssen. Ihre Zukunft ist schließlich kein Ausstattungsproblem.
Wichtiger ist die Frage, was wir der nächsten Generation überliefern und hinterlassen von der Welt, in der wir leben. Wir hätten zu diskutieren, was von unseren sozialen und kulturellen Zusammenhängen wert ist, behalten und weitergegeben zu werden. Nachzudenken und erforderlichenfalls auch zu streiten wäre über Fragen wie:
– Geben wir den alltäglichen Rassismus an die nächste Generation weiter oder die Sonntagsreden über Toleranz?
– Was sagen wir denen, die in naiver Gedankenlosigkeit wieder vom „Dritten Reich“ reden, ohne zu wissen, welche Geschichtsklitterung sie mit dieser Zählweise übernehmen, oder reservieren wir dieses Wissen für Spezialisten?
– Ist die vermeintliche Zukunftsbedeutung der Unterrichtsgegenstände wichtiger als ihre Geschichte und Gegenwart, oder sollte es umgekehrt sein?
– Können Lehrerinnen und Lehrer mit ihrer Person einstehen für das, was sie vermitteln, und sich selbst befragbar machen?
4. A wie Autonomie, U wie Usus?
Wenn Bildungsprozesse nicht auf Formierungsprozeduren reduziert werden sollen, können sie nur im Bild der Weitergabe von einer Generation an die nächste gedacht werden. Gebildet wären dann Menschen, die sich in zukünftigen Verhältnissen orientieren können, weil sie erfahren haben, aus welchen vergangenen Verhältnissen sie kommen.
Die Bremer Schulautonomie enthält die Chance, über solche Fragen nachzudenken. Alle, die zu einer Schule gehen (auch die Erwachsenen!), könnten sich fragen, was Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart für die Bildungsprozesse in ihrer Schule bedeuten. Sie könnten nach Wegen suchen, die die Gegenwart respektieren, anstatt sie dem Punktgewinn einer ungewissen Zukunft zu opfern. Allerdings wird dabei deutlich werden, daß nicht nur die Schulen Orte der Bildung sind, sondern daß auch Straßen, Märkte, öffentliche Einrichtungen anregungsreiche und gestaltbare Orte der Bildung sein sollten.
Daß freilich im Bremer Schulalphabet auf A wie Autonomie U wie Usus folgt, mindert die Chance erheblich. Wer Autonomie sagt, muß Differenz akzeptieren. Wer Profilierung will, darf keine standardisierten Meßlatten anlegen, bei denen bekanntlich nur Mittelmaß, aber keine Profile herauskommen.
Die Autonomie der Schulen ist nicht voraussetzungslos. Aufgrund ihrer unterschiedlichen materiellen und sozialen Bedingungen müssen die Schulen in den verschiedenen Stadtteilen ganz unterschiedliche pädagogische Probleme lösen. Zu verhindern, daß die Autonomie der Schulen zu einer weiteren Benachteiligung der Benachteiligten führt, ist Aufgabe der Schulpolitik.
Johannes Beck
Paula Bücking
Wiltrud Ulrike Drechsel
Die AutorInnen
Johannes Beck, geb. 1938, Professor für Allgemeine Pädagogik, Universität Bremen.
Paula Bücking, geb. 1921, Fachleiterin Erziehungswissenschaften im WIS 1957 – 1883 , Gründungsmitglied der Freien Bildungsstätte Prinzhöfte.
Wiltrud Ulrike Drechsel, geb. 1940, Professorin für Sozialgeschichte der Erziehung, Universität Bremen.
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