■ Selbst wenn Angela Merkel nichts von den strahlenden Atombehältern gewußt hat, ist das für die Umweltministerin eine Blamage. Ihr Glück: Atomindustrie räumt Schuld ein.
: Castor: Ein Fall für die Justiz

Selbst wenn Angela Merkel nichts von den strahlenden Atombehältern gewußt hat, ist das für die Umweltministerin eine Blamage. Ihr Glück: Atomindustrie räumt Schuld ein.

Castor: Ein Fall für die Justiz

In Bonn läuft der Entscheidungsprozeß auf Hochtouren: Soll man eine altgediente Ministerin fallenlassen oder nicht? Angela Merkel (CDU) mußte immerhin zugeben, daß bei Atomtransporten Verordnungen seit zehn Jahren nicht eingehalten wurden. Was ihr dazu einfiel, war dürftig: Sie habe nichts davon gewußt und alle ihre Beamten auf ihre Nachfrage hin auch nicht, so die Bundesumweltministerin treuherzig in Stellungnahmen der letzten zwei Tage. Die Atomunternehmen hätten „geschlafen“, versuchte Merkel etwa in einem Interview mit dem MDR die Schuld von sich zu weisen. Sie denke nicht an Rücktritt.

Selbst wenn Angela Merkel nichts davon gewußt hat, ist diese Abwehrreaktion für die oberste Kontrolleurin der deutschen Atombranche – und das ist sie als Ministerin für Reaktorsicherheit nun mal – eine Blamage. Sie würde bedeuten, daß ihr gesamtes Ressort zehn Jahre nichts vom rechtswidrigen Verhalten der Atomfirmen gemerkt hätte.

Kritisiert hat Raimund Kamm, Sprecher des Vereins „Energiewende atomkraftfreies Schwaben“ das „Wirrwarr von Zuständigkeiten, das für die Bevölkerung überhaupt nicht mehr durchschaubar“ sei. Wenn Merkel öffentlich erkläre, sie habe gerade erst von den strahlenden Atombehältern erfahren, dann könne man nur daraus schließen, daß sie ihre Aufsichtsbehörden überhaupt nicht im Griff habe. Ein Beamter des für die Zugkontrolle zuständigen Eisenbahnbundesamtes in Minden habe ihm dieser Tage gesagt, daß der Behörde „das Phänomen (mit den strahlenden Atombehältern, d. Red.) seit circa zehn Jahren bekannt“ sei, erklärt der ehemalige Landtagsabgeordnete der Grünen.

Die AKW-Betreiber behaupten, daß die Transportbehälter außen sauber seien, wenn sie ihre AKWs verließen. Trotzdem haben die Franzosen außen an den Stahlbehältern und später auf den entladenen Waggons strahlende Flecken festgestellt. Das Bundesministerium teilte dazu gestern mit: „Eine endgültige Erklärung für erst nach Absendung aufgetauchte Kontaminationen bei Brennelementtransporten gibt es bisher nicht.“ Das Problem sei „in den vergangenen Jahren vereinzelt auf internationalen Fachkongressen behandelt worden“. Die Dichtheit der Behälter werde aber nicht in Frage gestellt, so das BMU.

Das „Problem“ war auch dem Eisenbahnamt seit zehn Jahren bekant – da nähert sich das Wissen schrittweise dem Ministerium in Bonn. Die FDP-Fraktion scheint das auch erkannt zu haben. Sie hat genauso wie SPD und Grüne eine aktuelle Stunde im Bundestag zu dem Atomskandal beantragt. FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle nannte es „skandalös“, daß die Stromkonzerne „die brisanten Informationen zu Grenzwertüberschreitungen offenbar unter den Teppich kehren wollten“. Die Akzeptanz für die Atomenergie sei in der Bevölkerung nur dann gewährleistet, „wenn nicht der leiseste Verdacht aufkomme, es gebe einen fahrlässigen Umgang mit den Sicherheitsstandards“.

Der Atomindustrie bleibt angesichts der klaren Überschreitung der Grenzwerte über zehn Jahre hinweg nichts anderes übrig, als ihre Schuld teilweise anzuerkennen. Manfred Petroll vom Deutschen Atomforum wandte sich gestern in einem Radiointerview denn auch gegen einen Rücktritt Merkels. Die Atomindustrie übernehme die Verantwortung, sagte er. Die Stromversorger hatten am Mittwoch bei einem Treffen mit Vertretern des Bonner Umweltministeriums eingeräumt, bereits seit Mitte der 80er Jahre von den erhöhten Strahlenwerten gewußt zu haben. Nun werden die Rechtsanwälte bemüht: Angela Merkel läßt prüfen, ob „rechtliche Schritte gegen mögliche Verantwortliche einzuleiten sind“.

Hessens Innenminister Gerhard Bökel (SPD) hat das Verhalten der Atomindustrie im Zusammenhang mit den strahlenden Atommüllbehältern als Fall für den Staatsanwalt gewertet. „Diese Schlamperei riecht nach einer handfesten Umweltstraftat“, sagte Bökel am Freitag der dpa. Der Transportstopp müsse mindestens so lange gelten, bis die Atomindustrie personelle Konsequenzen gezogen habe. „Wie soll ich den Polizisten, die Castor-Behälter beschützen müssen, eigentlich noch glaubwürdig vermitteln, daß sie keiner Gefahr ausgesetzt sind?“ fragte Bökel.

Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) stellte gestern Strafantrag gegen die Verantwortlichen beim Bundesamt für Strahlenschutz wegen des Verdachts auf Verstoß gegen die Strahlenschutzverordnung. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) prüft derweil eine Strafanzeige gegen Merkel wegen möglicher fahrlässiger Körperverletzung von Polizei- und Bahnpersonal. Hubert Weinzierl, der Vorsitzende des BUND, freut sich, daß die Atompolitik jetzt auch Thema im Bundestagswahlkampf sei: „Jetzt muß SPD- Kanzlerkandidat Schröder Farbe bekennen, ob er sich zum Handlanger der Atomindustrie degradiert oder Standhaftigkeit beweist.“ R. Metzger/K. Wittmann