Nie wieder Felgaufschwung!

■ Durch Änderung der Lehrpläne sollen Angst und Zwang aus dem Sportunterricht verschwinden

Felgaufschwung – was war das für eine Quälerei! Wie sollte man nur den schweren Körper um die kalte Reckstange herumschleudern? Oder Bockspringen. Immer einen halben Meter zu hoch gesprungen aus Angst vor einer Karambolage. Kugelstoßen. Auch wenn die Kugel trotz zahlloser Vorübungen einen Meter vor den Füßen landete. Sportunterricht in den 70er und 80er Jahren.

Wer sich von den damaligen SchülerInnen heute überhaupt noch bewegt, tut das meist in ganz anderen Formen: Radfahren, Wandern, Joggen, Tanzen, Aikido. Freiwillig einen Flop über die Latte oder einen Bocksprung macht keiner mehr.

Auch im Turnsaal kalter Krieg

Jürgen Funke-Wienecke seufzt, wenn er von solchen Sportbiographien hört. „Das ist das Sportartenkonzept, das wurde in den 70ern eingeführt“, sagt der Hamburger Professor für Sportwissenschaft. Damals herrschte kalter Krieg; und auf dem Gebiet des Sports war der Westen eindeutig schwächer. Also führte man an den Schulen das Sportartenprinzip ein: Der Unterricht sollte sich an den Leistungssportarten orientieren. So wollte man aus einer breiten Basis eine Spitze heranzüchten.

Damit wurde der Schulsport zu einer hochtechnischen Angelegenheit. Statt erst einmal auszuprobieren, auf welch verschiedene Arten man über eine Stange kommt, wurde die angeblich einzig richtige „Lösung“ präsentiert. Die SchülerInnen mußten präzisen Bewegungsvorschriften folgen. Sport am Gängelband. „Da hat man die Person, die sich da bewegen soll, glatt übersehen“, sagt Funke-Wienecke.

Zwar sind heute Leichtathletik und Geräteturnen nicht mehr dominant, weil viele Spiele hinzugekommen sind, etwa Badminton und Basketball. Doch der Lehrplan von damals gilt immer noch, und damit das Sportartenprinzip.

Dabei hat es früh Kritik gegeben. Die New-Games-Bewegung aus den USA zum Beispiel, entstanden in der Hippie-Zeit, bemängelte die Konkurrenzorientierung und Techniklastigkeit des Sportunterrichts. Sie erfand neben Frisbee zahllose Gemeinschaftsspiele wie den Sitzkreis oder das Wollfadenspiel. Und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie entstand Anfang der 80er eine neue Richtung, die Psychomotorik. Die entdeckte zum Beispiel, daß hyperaktive Kinder mit erkundenden Bewegungsspielen lernen können, ihre überschießenden Impulse besser zu steuern. Bewegung, so wurde immer deutlicher, ist viel mehr als nur Sport.

Doch erst jetzt erreichen diese alternativen Bewegungsformen die Schulen: In der Hamburger Schulbehörde wird derzeit an neuen Lehrplänen gearbeitet. Die für die Grundschulen sind so gut wie fertig. In den nächsten Wochen schon sollen „Handreichungen“ an die Lehrer verteilt werden, bezeichnenderweise übertitelt mit „Bewegung, Spiel und Sport“.

Der neue Grundschullehrplan teilt den Unterricht nicht mehr nach olympischen Sportarten ein, sondern nach „Elementen, die das Bewegungsgeschehen bestimmen“: Wasser, Spiele, Geräte, Gelände, Musik. Damit greift der Lehrplan eigentlich nur auf, was die Grundschul-SportlehrerInnen trotz alter Lehrpläne schon lange machen. Sie, die zu zwei Dritteln nie Sport studiert haben, bieten den Kindern statt klassischem Geräteturnen lieber aufregende „Bewegungslandschaften“ an mit Gitterleitern, Mattenbergen, Tauen, Wackelstegen.

Da geht es nicht um Leistung, sondern um Bewegungserfahrung und damit Spaß. So kann selbst das einst angstbesetzte Bockspringen Spaß machen. Wenn man nämlich höher anläuft und tiefer landet: „Einfach eine Anlaufstrecke aus Kästchen bauen, so daß das Hindernis nicht so hoch ist“, erklärt Sportdidaktiker Jürgen Kretschmer vom Fachbereich Erziehungswissenschaft. „Bock ist so was Tolles, wenn man die Erfahrung gemacht hat, wie schön es ist zu fliegen.“

Selber entscheiden, was gut tut

An den neuen Lehrplänen für Mittel- und Oberstufe wird noch gebastelt. Auch da zeichnet sich eine Wende ab: keine Aufteilung mehr nach Sportarten, sondern nach Bewegungsverwandtschaften. Statt Volleyball sollen „Rückschlagspiele“ angeboten werden, aus denen sich jeder sein Lieblingsspiel aussuchen kann. „Die Jugendlichen sollen selbst entscheiden, was ihnen guttut“, sagt Ursula Guse, die Schulsportreferentin der Schulbehörde.

Künftig wird also nicht mehr die ganze Klasse dasselbe machen. Sowas lehnten LehrerInnen früher als zu gefährlich ab. Und so standen die SchülerInnen Schlange vor dem Gerät und bewegten sich gerade mal fünf Minuten pro Stunde, wie Kretschmer gemessen hat.

„Aber das ist nicht gefährlich“, sagt Ursula Guse. Schließlich lernen heute schon die GrundschülerInnen in den Bewegungslandschaften, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Selbst zu entscheiden, ob sie heute nur bis zur fünften Sprosse klettern und erst morgen bis ganz rauf.

Aber wie soll dann noch benotet werden? Ganz einfach, meint die Schulsportreferentin: Dann heißt die Unterrichtseinheit nicht „Reckturnen“, sondern „Bewegungsmöglichkeiten an festen und beweglichen Stangen“. Und dann probieren die SchülerInnen in kleinen Gruppen eben nicht nur aus, was man mit Reck und Barren so alles anstellen kann, sondern auch mit einem Zirkus-Trapez, das von der Decke hängt. „Wenn das Trapez so genutzt wird, daß zwischen Turnendem und Gerät eine Beziehung entsteht, ist der Felgaufschwung nicht mehr zwingend notwendig, um eine Zwei zu bekommen.“ Wenn es nur soweit wäre! Derzeit probieren einige SportlehrerInnen die Lehrplan-Entwürfe aus. Politisch abgestimmt ist noch nichts. Schon gar nicht auf Bundesebene. Schließlich müssen für Abifächer gleiche Anforderungen gelten.

Die Hamburger Lehrplan-ReformerInnen hoffen deshalb auf allmähliche Infiltration durch junge Referendare und auf eine gewisse Revolte der SchülerInnen. Denn auch die alten Lehrpläne ließen Freiraum, meint Ursula Guse: „Die werden nicht ausgeschöpft.“ Die LehrerInnen, die heute unterrichten, sind eben noch nach dem Sportartenprinzip ausgebildet.

Christine Holch