Spaniens schmutziger Krieg vor Gericht

Heute beginnt in Madrid das Verfahren wegen der ersten Aktion der „Antiterroristischen Befreiungsgruppen“ (GAL). Ex-Innenminister Barrionuevo ist wegen Staatsterrorismus gegen die ETA angeklagt  ■ Aus Madrid Reiner Wandler

So hochrangige Beschuldigte hat der Oberste Gerichtshof in Madrid noch nie gesehen. Ab heute nehmen dort der ehemalige Innenminister der Regierung von Felipe González, José Barrionuevo, und dessen rechte Hand, Staatssekretär Rafael Vera, auf der Anklagebank Platz. Zusammen mit zehn weiteren Angeklagten werden sie „der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Vereinigung, der Veruntreuung öffentlicher Gelder und der Freiheitsberaubung“ beschuldigt. Den beiden sozialistischen Politiker droht eine Haftstrafe von bis zu 23 Jahren.

Barrionuevo und Vera sollen 1983 die Entführung von Mikel Lujua, eines in Südfrankreich untergetauchten Führungsmitglieds der baskischen Separatistengruppe ETA, geplant haben. Dafür heuerten sie im Baskenland stationierte Polizisten an. Mit Ministeriumsgeldern wurden Söldner aus dem Umfeld der französischen Fremdenlegion rekrutiert, Waffen und Fahrzeuge besorgt.

Statt Lujua verschleppten die Söldner am 4.12.1983 den baskischen Unternehmer Segundo Marey nach Spanien. Als die Auftraggeber den Irrtum bemerkten, forderten sie von Frankreich in einem anonymen Kommuniqué die Freilassung dreier Beamter der spanischen Spezialeinheiten zur Terrorismusbekämpfung (GEO), die zwei Monate zuvor versucht hatten, einen anderen hohen Etarra nach Spanien zu verschleppen.

Nach der Abschiebung der GEOs wurde Marey freigelassen. In seiner Hosentasche steckte eine Erklärung: „Jede Aktion seitens der Terroristen wird beantwortet werden.“ Und an die französische Regierung gerichtet: „Hiermit tun wir kund, daß wir französische Interessen in Europa angreifen werden, da Frankreichs Regierung dafür verantwortlich ist, daß die Terroristen auf ihrem Staatsgebiet unbehelligt agieren können.“ Unterschrift: GAL – die Abkürzung für „Antiterroristische Befreiungsgruppen“.

Die Entführung war der Auftakt für eine Serie von 40 Attentaten gegen das ETA-Umfeld in Südfrankreich. Die blutige Bilanz: 28 Tote und 25 zum Teil schwer Verletzte. Der Spuk hatte erst dann ein Ende, als Frankreich 1986 begann, ETA-Flüchtlinge nach Spanien auszuliefern.

Der Oberste Gerichtshof in Madrid will jetzt mit Hilfe der beiden Ex-Polizisten José Amedo und Michel Dominguez anhand der Marey-Entführung beweisen, daß der schmutzige Krieg von Spaniens Regierung geplant und finanziert wurde. Sollte das gelingen, würde die Version der damaligen Regierungspartei PSOE, nach der die GAL „eine Bande von Einzeltätern aus im Baskenland stationierter Polizisten war, die an der ETA für Opfer in den eigenen Reihen Vergeltung übten“, endgültig in sich zusammenstürzen. „Das hätte auch Auswirkungen auf die sieben weitere GAL-Ermittlungsverfahren, die noch nicht abgeschlossen sind“, hofft der Nebenklägeranwalt Teodoro Mota.

An der Legende von den Einzeltätern hatten die beiden Kronzeugen Amedo und Dominguez jahrelang selbst mitgestrickt. Sie schwiegen sich selbst dann noch über ihre Auftraggeber aus, als sie 1992 zu jeweils 108 Jahre Haft verurteilt wurden. Richter Baltazar Garzón blieb nichts weiter übrig, als ein X an die Spitze eines Organisationsschemas zu malen. Der Zugang zu den Polizeiarchiven wurde ihm von der Regierung verwehrt.

Für González und seine Mannschaft schien der Fall GAL ausgestanden. Bis zum 19. Dezember 1994, als das staatliche Fernsehen sein Abendprogramm unterbrach und einen Sonderbericht einblendete. Julian Sancristóbal, ehemaliger Zivilgouverneur von Vizcaya und späterer Staatsschutzchef, Francisco Alvarez, Polizeichef in Bilbao und Miguel Planchuelo, Leiter der geheimdienstlichen Abteilung der Polizei, waren verhaftet worden. Amedo und Dominguez hatten überraschend ihr Schweigen gebrochen. Zu lange hatten sie vergeblich auf einen heimlich von der Regierung in Aussicht gestellten Gnadenerlaß gewartet. Und als dann auch noch die monatlichen Schweigegeldzahlungen ausblieben, war das Maß voll.

„Alle Welt weiß, daß man in der Polizei nicht auf eigene Faust handeln kann“, wetterten die beiden frischgebackenen Kronzeugen in einem mehrteiligen Interview mit der Tageszeitung El Mundo. Sie lieferten dem Gericht Informationen über die Schweizer Geheimkonten des Innenministeriums zur Finanzierung der GAL und legten handschriftliche Originale von Kommandoerklärungen vor, die ihre Vorgesetzten abgefaßt hatten. Sancristóbal, Alvarez und Planchuelo begannen zu singen. Ricardo Garcia Damborenea, ehemaliger Vorsitzender der PSOE in Vizcaya und Rafael Vera, Staatssekretär im Innenministerium, machten Bekanntschaft mit einer Gefängniszelle. Der ehemalige Innenminister José Barrionuevo blieb nur dank parlamentarischer Immunität auf freiem Fuß.

Amedo und Dominguez hatten den größten Skandal der Regierung González ausgelöst. Die Oppositionspartei Partido Popular (PP) wußte den Fall zu nutzen. Die Wähler schickten González und seine PSOE nach 13jähriger Regierungszeit auf die Oppositionsbank. Hieb- und stichfeste Beweise, um den ehemaligen Regierungschef auf die Anklagebank zu bringen, konnten weder die Kronzeugen, noch die aussagewilligen Mitangeklagten erbringen. Und die, die eigentlich wissen müßten, ob der ehemalige Regierungschef Señor X war – Barrionuevo und Vera –, hüllen sich in Schweigen.

„Meine Regierung hat nie den rechtsstaatlichen Rahmen verlassen“, beteuert González zum Prozeßauftakt erneut. Seine beiden Mitarbeiter seien Opfer einer Verschwörung der PP von José Maria Aznar. Der heutige Regierungsvizepräsident Francisco Alvarez Cascos habe 1994 den beiden Kronzeugen Haftverschonung versprochen, falls sie dabei behilflich seien, die sozialistische Regierung zu Fall zu bringen. „Das Oberste Gericht hat sich an die Spitze dieser politischen Operation drängen lassen“, so González.