Frau Genç hätte gern Blumenkohl gehabt

Den Sommer über tourt die „Lindenstraße“ durch 15 ostdeutsche Städte, um zu erkunden, wie die Wiedervereinigung in der West-Serie Einzug halten könnte. Ein nicht ganz einfaches Verfahren, ein Drehbuch zu verosten  ■ Aus Dresden Jens Rübsam

Klausi Beimer nach Leipzig, vielleicht. An die Universität, vielleicht. Verdonnert durch die „Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen“, vielleicht. Oder Iffi Zenker mit Söhnchen Nicolai nach Mecklenburg- Vorpommern, vielleicht. Zu Hubertchens Familie, vielleicht. Zu ihrem Freund nach Rostock, vielleicht. Oder die Beimers nach Dresden, der Hans und seine „Schöne“, die Anna Ziegler. Der Hans von Berufs wegen. Die Anna aus Liebe zu Hans. Vielleicht.

Hans W. Geißendörfer sitzt in einem feinen, mit rotem Samt bezogenen Sessel im noch feineren Dresdner Hotel Kempinski und sagt ganz viele Sätze mit ganz vielen „vielleichts“; es wird schnell klar, daß der Vater der „Lindenstraße“ ein Problem hat. Klausi nach Leipzig, Iffi nach Rostock, die Beimers nach Dresden – wie Schachfiguren schiebt Geißendörfer seine Stars durch den Raum, Hauptsache, die Richtung stimmt, immer gen Osten. Wen es letztendlich aus der Münchner „Lindenstraße“ treffen wird, ist egal. Hauptsache, eine oder einer oder am besten eine ganze Familie geht in den Osten.

Da ist nun Hans W. Geißendörfer selbst angekommen, an bester Adresse, im Dresdner Kempinski, zwecks „Begegnung mit Menschen aus den neuen Bundesländern“. Die freilich tun sich schwer mit der vornehmen Hausnummer 3 am Taschenberg, die Zimmerpreise fangen hier bei 400 Mark an. Die Menschen aus den neuen Bundesländern müssen geladen werden zu einem Gespräch. Wie der gute Herr Deubel, Sozialdezernent von Dresden, der vom „schwierigen Anpassungsprozeß des Ostens an den Westen“ und von „16 Prozent Arbeitslosen in Dresden“ berichtet. Wie die freundliche Frau Franke, Vorsitzende des Vereins Dresdner Tafel, die mitteilt, in der Stadt gebe es 8.000 Sozialhilfeempfänger und offiziell 50 Straßenkinder. „Straßenkinder“ notiert Geißendörfer auf seinem Zettel. Schon sehen wir in Gedanken den kleinen Nico, Iffis Sohn, vor dem Rostocker Hauptbahnhof sitzen und fragen: „Haste mal 'ne Mark?“

Am DRK-Haus hinterm Dresdner Hauptbahnhof, nicht furchtbar weit weg vom Kempinski, stehen derweil die Sozialhilfeempfänger. Seit gut drei Stunden steht Heidi Genç an, auch ihre Tochter mit den sechs Kindern ist da und ihre Stiefschwester. Heute verteilt die Dresdner Tafel das zweite Mal in dieser Woche Lebensmittel, ausnahmsweise, die Stars von der „Lindenstraße“ wollen helfen. Klar, daß Heidi Genç gekommen ist, nicht wegen der „Lindenstraße“, „die schaue ich nur selten, ich verehre den Pilawa“; wegen Blumenkohl ist sie gekommen, „wissen Sie, ich hab' Blumenkohl so gerne“. Wie es ihr geht? Erwerbsunfähigkeitsrente, 400 Mark im Monat zum Leben, Kaffee und Zigaretten müssen sein, früher in der Reinigung beschäftigt und als Stanzerin. „Es geht so“, sagt Heidi Genç. Immerhin.

Es fängt an zu regnen.

In Zimmer 144, dem Galeriezimmer des Kempinski, sagt Hans W. Geißendörfer unterdessen: „Die ,Lindenstraße‘ versucht, die Bundesrepublik Deutschland zu porträtieren.“ Auf dem Tisch stehen kleine Silbertabletts mit Schinken- Häppchen. „Natürlich haben wir den Osten wahrgenommen. Aber es ist schwer, in eine Serie, die in München spielt und in Köln produziert wird, den Osten zu integrieren.“ Auf weißen Spitzenservietten liegen köstliche Plätzchen. „Wir tragen uns mit dem Gedanken, die ,Lindenstraße‘ zu erweitern.“ Kaffee wird gereicht.

Man hätte all das Hans W. Geißendörfer gern geglaubt, hätte sein Pressesprecher nicht im nächsten Moment von Einschaltquoten geredet. Sieben Millionen jeden Sonntag, davon nur eine Million im Osten. Jeder 11. im Westen schaut die „Lindenstraße“, im Osten jeder 16. Ein Problem für die ARD. Die liegt im Osten sowieso hinter den Privaten. Ein Problem für Geißendörfer. Der Serien-Erfinder mit der Strickmütze und der Lederweste, der wie ein Pfarrer von der Kanzel ständig „Realitätsnähe“ predigt, gibt zu: „Die ,Lindenstraße‘ ist mit der DDR als Ausland groß geworden.“ Wie Ausland werden die neuen Bundesländer noch heute, im Jahr 8 der Wiedervereinigung und nach 651 Folgen, behandelt. Wenn überhaupt.

Gutgemeinte Versuche gab es immer wieder: Das penible Hubertchen wurde zur Verwandtschaft nach Warnemünde geschickt. 1989 kam die Verwandtschaft zu Besuch nach München. Die mit allem beladene Mutter Beimer reiste nach Rügen. Die ewige Göre Iffi Zenker durfte 1995 an der Ostsee Urlaub machen. Nach der Wiedervereinigung kam die weinerliche Claudia Rantzow aus dem sächsischen Borna, samt ihrer Stasi-Familien-Vergangenheit nach München. Eine Folge (334) wurde gar in Borna gedreht. Sie geriet zur Peinlichkeit. Das ostdeutsche Braunkohledorf konnte schließlich nichts anderes sein als reines Elend. „Pflichterfüllung“ nennt heute Hans W. Geißendörfer das Einbringen der Wiedervereinigung in die Serie, „zu oberflächlich in der Darstellung und zu schlecht recherchiert“.

Das soll ihm nicht noch einmal passieren. Seit dem Wochenende tourt die „Lindenstraße“ durch den Osten. „Begegnung mit Menschen“ in 15 Städten zwischen Sellin auf Rügen und Suhl im Thüringer Wald. Schon demnächst werden Rehlein Berta Griese und Herr Sch...sch...Scholz in Leipzig die „wichtigsten Gedenkstätten besuchen“, wie Geißendörfer sagt. Es klingt wie ein Satz aus einem schlechten Tourismusführer. Dabei will er seine Serie jetzt wirklich im Osten verankern, mit Personen. Vielleicht in Dresden.

Im Kempinski? „Wären wir in eine Pension gegangen und hätten die Schauspieler in einem Vier- Bett-Zimmer schlafen lassen, wäre das auch verlogen gewesen“, sagt Geißendörfers Sprecher. So haben „alle in der Redaktion mal geschluckt“, als es hieß, Unterbringung in Dresden im Kempinski.

Von da geht es jetzt zum DRK-Haus hinterm Hauptbahnhof, zu Heidi Genç und den anderen Sozialfällen der Stadt. Unterdessen sagt die freundliche Frau Franke von der „Dresdner Tafel“: „Es kommt einfach nicht zum Klappen, daß uns auch die Nobelhotels Lebensmittel abgeben.“ Es geben die örtlichen Bäcker und Fleischer und Obst- und Gemüsehändler.

Die haben heute reichlich gegeben. Sogar Artischocken und Kiwis und Weintrauben. Brokkoli und Kuchen. Milch und Joghurt. Blumenkohl ist nicht dabei, wie ihn sich Heidi Genç, die erste in der langen Reihe, gewünscht hat.

Jetzt hat es auch aufgehört zu regnen. Geißendörfer und sein Pressesprecher und der WDR-Redakteur, die Anna Ziegler, der Hans Beimer, die Mary Kling, die Elena Sarikakis und der Carsten Flöter, die fünf Schauspieler auf Tour, treffen am DRK-Heim ein. Flugs marschieren sie vorbei an der langen Reihe der Sozialhilfeempfänger, geradewegs hinter den Ausgabetisch. Die „Begegnung mit Menschen aus den neuen Bundesländern“ beschränkt sich auf die kurze Frage: „Wieviel Personen?“ Das ist die Anweisung von Frau Franke. Menschen wie Heidi Genç bekommen Lebensmittel je nach Anzahl der zu versorgenden Personen. Und an diesem Tag etwas mehr. „Ich glaube, die Probleme der Menschen hier sind für die Kunst nicht direkt reproduzierbar“, findet Edith Franke. Was denn als typisches ostdeutsches Problem in die „Lindenstraße“ müßte? „Wirkliche Arbeitslosigkeit. Ja, lange Arbeitslosigkeit.“

Das finden auch die Kosankes aus Gröditz, die am Tag darauf mitten in Dresden in dem weißen Festzelt vor dem schäbigen Freßpalast sitzen, zu DDR-Zeiten ein Schnellrestaurant. Das Zelt ist das „Café Bayer“. Die Straße, in der es steht, eigentlich die Sophienstraße, wurde kurzfristig in Lindenstraße umbenannt. Im „Café Bayer“ stehen Kuchentheke, Tische und Stühle und ein großer Bildschirm, auf dem die „Lindenstraße“ rauf und runter läuft. Die Dresdner Eierschecke kostet einsfünfundvierzig und die Erdbeerschnitte zweifünfzig. Kosankes, die 65 Kilometer angereist sind, nehmen nichts. Sie sind hier, weil sie die Mary fragen wollen, welches Schicksal sie noch erleiden muß, weil sie dem Herrn Geißendörfer sagen wollen, daß einem Ostdeutschen so etwas nicht passiert wäre wie dem Klausi Beimer und dem Flip Sperling, die einem Makler Geld gaben, ohne sich eine Quittung geben zu lassen. „Wir Ossis sind da genau“, sagen Kosankes. Es bleibt offen, ob das die Realität ist oder das Bild, das Kosankes gern im Fernsehen sehen möchten. Mal nicht den Stasizuträger und das Opfer der Stasi, mal nicht den hoffnungslosen Mittfünfziger und die nicht mehr gebrauchte tüchtige Frau. Sondern den schlauen Ostler.

Sicher, auch den sucht Hans W. Geißendörfer in Dresden. Wie er überhaupt den Ostler an sich begreifen lernen möchte. Was ist seine politische Lebensphilosophie? Welche Visionen hat er? Welche Hoffnungen? Welchen Haß? Welche Ängste? Das sind seine Katalogfragen. Das Ehepaar Kosanke hätte durchaus Antworten geben können, wenn wirklich Zeit geblieben wäre für eine „Begegnung mit den Menschen aus den neuen Bundesländern“ und nicht nur Zeit für „Lindenstraße“-Promotion. Auf die Hoffnungsfrage hätten Kosankens antworten können: daß sie hoffen, daß ihr Schwiegersohn, diplomierter Elektrotechniker, wieder Arbeit bekommt. Jetzt hat er gerade mal ein halbes Jahr ABM-Verlängerung bekommen. ABM? Geißendörfer hat Schwierigkeiten, wenn er ausbuchstabieren soll, was ABM heißt. Arbeitsbeschaffungs... „Wie heißt das weiter?“ „Ah, Maßnahme!“ LKZ? Geißendörfer zuckt die Schultern. Zwischen Köln und Dresden liegen 569 Kilometer. Zwischen Ost und West noch ein paar mehr.

So ohne weiteres geht man die nicht. Domna Adamopoulou, die Elena aus dem „Akropolis“, sagt: „Ich bin das erste Mal im Osten.“ Sie hat ein Lokal in Köln, eine Familie und ein Enkelkind und viele Drehtage in der „Lindenstraße“ und nie so richtig Zeit. Und jetzt, nach dem Wahlerfolg der DVU in Sachsen-Anhalt, hat sie sich schon gefragt, wie die Menschen im Osten auf eine „Frau mit schwarzem Kopf“ reagieren werden. Sie waren alle freundlich, „Hallo, Frau Sarikakis“. Wer Ausländer ist, bestimmt der Ostdeutsche selbst.

Kosankes, die im weißen Festzelt mit der Aufschrift „Café Bayer“ die Autogramme zählen, sagen: „Wir lieben die Mary.“ Die Mary ist Liz Baffoe, ihr Vater stammt aus Ghana. In der „Lindenstraße“ ist sie die Asylantin aus Nigeria, die nach dramatischen Abschiebungsszenen in Folge 651 wieder zurückgekehrt ist und wohl den Sohn von Elena Sarikakis heiraten wird. „Das mit dem Ausländerhaß ist schon gewaltig“, sagen Kosankes. Und schieben nach, als würde man es ihnen nicht so recht glauben: „Der Olli Klatt, der Neonazi, gefällt uns nicht.“ So was mögen wir hier im Osten nicht, sagen die Kosankes.

Was die Ostdeutschen mögen? Wie man sie integriert in die Münchner „Lindenstraße“? Schwierige Fragen für Hans W. Geißendörfer. Vielleicht sehen die Lösungen so aus: Klausi nach Leipzig. Oder Iffi nach Rostock. Oder Beimers nach Dresden.

Vielleicht.