Bei Kleinverbrechers hinterm Sofa

Was wie eine tarantinohafte Verbrecherstudie beginnt, entwickelt bald eine ungewohnt moralische Dimension: In dem Film „City of Industry“ von John Irvin spielt Harvey Keitel Roy, den Ritter der Enterbten  ■ Von Thomas Winkler

„City of Industry“ beginnt mit der akribischen Schilderung der Planung und Durchführung eines perfekten Verbrechens. Doch da hört die entfernte Ähnlichkeit zu „Rififi“ auf, und das Ballern beginnt. Skip, der nicht nur den Fluchtwagen fährt, sondern mit seinen dreckig blondierten Haaren ausgerechnet eine Ähnlichkeit zu Formel-1-Weltmeister Jacques Villeneuve entwickelt, möchte nicht teilen, erledigt aber nur zwei seiner drei Komplizen, weswegen wir jetzt eine Geschichte haben und sich Roy auf die Suche nach dem Geld machen kann.

Zwar gehört Roys Bruder zu den Opfern von Skip, aber doch scheint er zuerst nur am Geld interessiert. Mit der Witwe des zweiten Opfers feilscht er um den Anteil an der noch zurückzuholenden Beute. Doch was sich in die von Tarantino losgetretene Welle von Verbrecherstudien einzuordnen scheint, in denen das Böse nur mehr in geschäftlichen und bestenfalls anekdotischen Dimensionen verhandelt wird und rechtstiftende Instanzen wie die Polizei nicht einmal mehr auftauchen, entwickelt recht schnell eine heutzutage ungewohnte moralische Dimension.

Zwar läßt ihn Harvey Keitel, so wie er ihn spielt, niemals die professionelle Maske abnehmen, aber langsam, fast unmerklich wird aus Roy der Ritter, der sich der Enterbten und Entrechteten annimmt. Der Rest ist eine Ballade von der Rache, die wohl nie aus der Mode kommt, ist ein Western, der in einem Los Angeles spielt, in dem das glitzernde Downtown nur eine Ahnung aus Wolkenkratzersilhouetten am hitzeflimmernden Horizont ist. Aber in den Vororten, hinter den ungepflegt wuchernden Vorgärten, bei Kleinverbrechers hinterm Sofa, da wird noch der amerikanische Traum geträumt, daß man sein Stück vom Kuchen abbekommt, wenn man nur fleißig und ehrlich sein Verbrechen begeht. Das Bild, an dem dieser Film hängt und um das herum der Film gebaut ist, ist dieses: Harvey Keitel, sein kräftiger, aber auch schon etwas schwammiger Oberkörper in einem ärmellosen Unterhemd, pfeffert einen Tisch quer durchs Zimmer. Es ist der einzige Moment in „City of Industry“, in dem Roy ein Gefühl übermannt. Zuvor und danach ist Roy der geschäftsmäßig handelnde Kriminelle, der Gewalt nur dann einsetzt, wenn sie zum Erreichen des Ziels nützlich ist. Wenn er dem Yuppie-Anwalt das Gesicht eindrückt, ist das nicht persönlich gemeint.

Nur: Vorher ist sein Ziel der reibungslos ablaufende Coup. Danach will er die Kinder seines toten Komplizen nicht unversorgt zurücklassen. Oberflächlich bleibt er so unbeteiligt wie Clint Eastwood, der mit zusammengekniffenem Mund ins Städtchen reitet, die Bösewichter umlegt und dann wieder im Sonnenuntergang verschwindet. Auch wenn Keitel kein Pferd, sondern einen Greyhound-Bus benutzt, verbindet ihn doch mit den klassischen namenlosen Rächern der Westerngeschichte immerhin, daß auch ihm eine persönliche Geschichte fehlt. Er ist der Bruder, mehr gibt es nicht zu wissen.

Auch die Schußgefechte haben nichts gemein mit den choreographierten Zeitlupenballetten eines John Woo, sondern machen so unspektakulär Löcher in Menschen, wie das früher in Dodge City schon der Fall war. Die Umgebung immerhin sorgt für eine zweite Ebene: Wenn der Showdown in einer Industrieruine aus den 30ern stattfindet, in der mit „White Heat“ mit James Cagney schon ein Klassiker des Genres entstand, ist das ein schwer zu übersehender Kommentar zur gesellschaftlichen Realität. Andererseits sieht es aber dann doch vor allem pittoresk aus. Und erklärt vielleicht noch, warum der Film so heißt, wie er heißt.

„City of Industry“, Regie: John Irvin, Buch: Ken Solarz, mit Harvey Keitel, Stephen Dorff u.a., USA 1997, 95 Min.