Angst in Süd-Korea vor dem totalen Absturz

10.000 Mitarbeiter des Autoherstellers Hyundai streiken in Ulsan gegen geplante Massenentlassungen. Landesweit sind 80.000 Beschäftigte im Ausstand. Die Regierung scheint eine Konfrontation vermeiden zu wollen  ■ Aus Ulsan André Kunz

Im Autowerk Hyundai von Ulsan streikten gestern über 10.000 Arbeiter. Die Stimmung war so ausgelassen und die Atmosphäre so gelöst, daß man sich als europäischer Zuschauer eher bei einem Volksfest wähnte als beim Beginn eines erbitterten Arbeitskampfes zwischen der neuen Regierung unter Präsident Kim Dae Jung und dem militanten Gewerkschaftsbund KCTU.

Gewerkschaftsführer forderten mit klaren Voten die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze, riefen jedoch dazwischen immer wieder zur Mäßigung und zum Dialog auf. „Wir dürfen nicht kampflos Massenentlassungen zulassen, wenn es andere Wege zur Krisenbekämpfung gibt“, verkündete Kim Kwang Shik, der Präsident der firmeneigenen Gewerkschaft von Hyundai, den versammelten Arbeitern vor ihrem Abmarsch in die Stadt. Nicht weniger als 8.500 oder ein Fünftel der Belegschaft will der Konzern bis Ende Juni entlassen.

Die große Angst, alles zu verlieren

„Nicht allein die Sorge um den Arbeitsplatz, sondern die Angst, alles zu verlieren, treibt die Hyundai- Leute auf die Straße“, sagt Choi Kum Seop, ein Gewerkschaftsführer der Metallarbeiter. Nicht weniger als zwei Drittel der 151.000 Industriearbeiter der Stadt Ulsan sind in den insgesamt neun Hyundai-Werken angestellt. Davon die Hälfte im Autowerk, das für den Konzern und die Stadt zum Aushängeschild des eigenständigen koreanischen Kapitalismus geworden war.

Der Hyundai-Arbeiter lebt in einer werkseigenen Wohnung, schickt seine Kinder in eine Hyundai-Mittelschule und kauft im Hyundai-Warenhaus ein. „Wer seine Stelle in diesem Betrieb verliert, verliert einen Teil seiner Identität“, sagt Choi. Zwar haben die südkoreanischen Arbeiter nach ihrer Entlassung Anspruch auf zwei Monate Arbeitslosengeld, eine Summe, die rund 80 Prozent des letzten Gehalts entspricht. Doch sind die zwei Monate einmal abgelaufen, kann sich der Arbeiter nicht ans Sozialamt der Stadt wenden, um dort eine Unterstützung zu erhalten.

Auf dem ausgetrockneten Arbeitsmarkt eine andere, auch minderwertigere, Stelle zu finden, ist fast unmöglich. Innerhalb von sechs Monaten ist die Arbeitslosigkeit in der Stadt von 3,2 auf 7,1 Prozent angestiegen. „Die Krise Süd- Koreas ist die Krise von Ulsan“, sagt Lee Kye Jin, Vizebürgermeister für administrative Angelegenheiten.

Reagiert haben die Behörden mit einem Programm, in dem 3.000 auf zwei Monate befristete Stellen im öffentlichen Dienst angeboten werden. Den zusätzlich eingestellten Straßenreinigern und Abfallentsorgern bezahlt die Stadt ein Monatsgehalt von umgerechnet 600 Mark, das Existenzminium für eine Person in Süd-Korea.

Die Regierung hat die Streiks für illegal erklärt

Das Programm reicht aber in keinem Fall aus, um die 35.000 Arbeitslosen zu beschäftigen. Kommen die 8.500 von Hyundai im nächsten Monat hinzu, dann wird Ulsan eine Rekordarbeitslosigkeit von nahezu neun Prozent aufweisen.

So wie in Ulsan sind in ganz Süd- Korea mittlerweile über 80.000 Arbeiter aus mehr als 1.000 Betrieben in den Ausstand getreten. Und obwohl die Regierung die Streiks für illegal erklärt hat, hielten sich die Ordnungskräfte bislang diskret im Hintergrund. Kein Polizist in Kampfuniform war gestern in der Millionenstadt zu sehen. Das könnte ein Indiz dafür sein, daß die Regierung ebenfalls eine blutige Konfrontation vermeiden will.