Pulverfaß Abchasien

Selbst der UNO ist eine politische Vermittlung zwischen Abchasen und Georgiern nicht gelungen. Seit Ende des Bürgerkriegs drängen 200.000 georgische Flüchtlinge auf Rückkehr nach Abchasien, und die UN-Beobachter im Grenzgebiet sind machtlos. Bei den deutschen Blauhelmen war  ■ Jürgen
Gottschlich

Genau hier ist es passiert. Hier sind sie hereingestürmt, 15 Mann, alle mit Maschinenpistolen bewaffnet. Sie haben wie wild herumgeballert. Da vorn sieht man noch die Einschußlöcher.“ Josef Greipl, der Major aus dem Bayerischen Wald, deutet auf die Wand hinter sich. Kaum vorstellbar, daß ausgerechnet hier ein folgenschwerer Überfall stattgefunden haben soll. Ein gemütlicher Aufenthaltsraum mit Sitzecke und frei stehender Theke, ein Fernseher und ein paar Urlaubsplakate auf der verblichenen Tapete. Und doch wurden hier am 19. Februar vier Soldaten der UN-Blauhelmtruppen Unomig gekidnappt und verschleppt. Major Josef Greipl hatte Glück: Während des Überfalls war er gerade nicht im Haus. Zwei Uruguayer, ein Tscheche und ein Schwede wurden Opfer der Eindringlinge. Das war vor drei Monaten. Obwohl die UNO-Soldaten wieder freikamen, herrscht seitdem erhöhte Sicherheitsstufe, und das Quartier der Unomig wird seitdem von einer ziemlich verwegen aussehenden Truppe rund um die Uhr bewacht.

Die Wachmänner sind Georgier. Seit vier Jahren ist die „United Nation Oberserver Mission in Georgia“ – offizielles Kürzel Unomig – vor Ort. Der Überfall im Februar war einer der schwersten Zwischenfälle der gesamten Missionsdauer. „Dabei“, erklärt Major Greipl, „hatte die Geiselnahme mit unserem Auftrag hier überhaupt nichts zu tun. Das war eine innergeorgische Angelegenheit.“ Also eine Geschichte, um die die UNO sich eigentlich gar nicht kümmert. Angelegenheit der Unomig ist die Beobachtung einer Waffenstillstandslinie und die Überwachung der Waffenstillstandsvereinbarungen, die zwischen der georgischen Regierung, den Vertretern der ethnischen Minderheit der Abchasen und der russischen Regierung als Garantiemacht getroffen wurden. Böse Zungen behaupten, die 130 UNO-Beobachter seien vor allem da, um auf die Russen aufzupassen, was die UNO natürlich bestreitet.

Weil der Konflikt zwischen Abchasen und Georgiern zwar militärisch entschieden, politisch aber nicht gelöst ist, ist Major Greipl jetzt im Kaukasus statt in seiner Kaserne in Saarlouis. Mit ihm sind zehn weitere Bundeswehrangehörige Teil der UN-Mission in Georgien – sechs Ärzte und Sanitäter und fünf Militärbeobachter. Die Deutschen werden alle halbe Jahre ausgewechselt, Greipl kam zum Jahresbeginn. Der Einsatz in Georgien ist bislang weltweit der einzige, zu dem die Bundeswehr UN-Beobachter abgestellt hat. Entsprechend zufällig ist in Deutschland noch der Werdegang zum UN-Beobachter. Greipl war vorher als Fallschirmjäger Mitglied der Schnellen Eingreiftruppe der Nato. Durch den Dienst in den gemischten Einheiten war er schon mal sprachlich auf der Höhe. „Ich bin zu diesem Job gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Bei meinem letzten Stützpunkt wurde auf die Schnelle jemand gesucht, der an einem Lehrgang in England teilnehmen konnte, weil ein anderer krank geworden war. Ich bin spontan hin und hab' dort von der Möglichkeit gehört, als UN-Beoachter nach Georgien zu gehen. Als ich in meinem Bericht erwähnte, daß mich eine entsprechende Verwendung interessieren würde, war ich auch schon fast da.“

Vor dem Einsatz mußte Greipl noch einen Lehrgang absolvieren, in dem die Soldaten auf ihren Einsatz als UNO-Blauhelme vorbereitet werden. Die Vorstellung, nicht mal eine Pistole zu haben, war dem drahtigen Fallschirmjäger schon „sehr fremd“. Das hat sich aber schnell gegeben. „Es ist richtig, daß wir nicht bewaffnet sind. Das ist letztlich viel sicherer, weil alle Konfliktparteien wissen, daß wir unbewaffnet sind. Einen unbewaffneten UN- Beobachter zu erschießen ist viel schwieriger, als wenn wir doch noch eine Pistole hätten.“ Trotzdem ist der Job, wie der Überfall im Februar drastisch klargemacht hat, nicht ungefährlich. UN-Blauhelme sitzen per definitionem zwischen allen Stühlen. Erschwerend kommt hinzu, daß sie oft mit Erwartungen konfrontiert sind, die sie nicht einlösen können. Die Abchasen beklagen, daß die UNO ihren Wunsch nach einem unabhängigen Staat nicht unterstützt, und die georgische Regierung vermißt einen energischen Einsatz der Weltgemeinschaft bei der Rückführung der aus Abchasien vertriebenen Flüchtlinge. Der Frust aller Seiten richtet sich dann automatisch auf die UNO-Truppe vor Ort. Das UN-Beobachterkontingent in Georgien hat eine Sollstärke von 130 Mann und ist auf drei Stützpunkte unterteilt: das Städtchen Sugdidi auf der georgischen Seite der Waffenstillstandslinie, der Ort Gali, zehn Kilometer entfernt auf der abchasischen Seite, und das Hauptquartier in Suchumi, der Hauptstadt des umstrittenen abchasischen Gebiets.

Die elf Deutschen sind auf allen drei Standorten untergebracht. Major Greipl und sein Kollege, Hauptmann Thomas Beyer, sind in Sugdidi, die anderen in Gali und Suchumi. Das UNO-Quartier in Sugdidi macht einen durch und durch zivilen Eindruck. Lediglich die weißen Landrover und gepanzerten Kabinenfahrzeuge auf der Straße weisen darauf hin, daß in dem Reihenhaus am Stadtrand zur Zeit keine normalen Mieter leben. Und eben die Soldateska am Tor. Hat man die erst einmal passiert, betritt man einen kleinen Innenhof, wo die UNO-eigene Tankstelle versteckt ist, und erreicht dann ohne weitere Kontrollen das Erdgeschoß der Mission mit den Aufenthaltsräumen der Soldaten. Erst jetzt wird es für Besucher wirklich kompliziert. Man trifft zwar fast immer auf Angehörige der Mission, die sich für einen Außenauftrag in Bereitschaft halten, nur erzählen dürfen die „im Prinzip nichts“. Praktischerweise ist Hauptmann Beyer gerade von einem Kurzurlaub aus Deutschland zurückgekehrt und läßt sich nun von seinen Kollegen über die Ereignisse der letzten Tage „briefen“. Offiziell sind UNO-Blauhelme zu politischen Auskünften nicht autorisiert. Die gibt, wenn überhaupt, der kommandierende General. In Georgien ist das zur Zeit General Haroun al Raschid aus Bangladesch. Gespräche mit den Konfliktparteien werden zwar geführt, über den Inhalt kann der General aber keine Auskunft geben. Selbst in eigener Sache ist General Haroun sehr zurückhaltend. Seit der Entführung hat das Hauptquartier in New York alle Patrouillen in die weitere Umgebung der Stützpunkte untersagt, eine Kontrolle über militärische Bewegungen in der Sicherheitszone entlang der Waffenstillstandslinie ist für die Beobachter damit unmöglich geworden. Eine höchst unbefriedigende Situation, die nun schon fast drei Monate andauert.

Der Grund dafür ist ein Dissens zwischen den Russen und den westlichen Mitgliedern des Sicherheitsrates. Wie für Bosnien gibt es auch für Georgien eine sogenannte „Kontaktgruppe“, in der die politischen Entscheidungen fallen. Mitglieder sind außer den Russen die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Die USA verlangen, daß die UN-Beobachter durch bewaffnete Einheiten geschützt werden sollen und Hubschrauber zur Verfügung gestellt bekommen, was die Russen ablehnen, weil sie darin bereits eine Ausweitung des Mandats sehen. Dahinter steht der Konflikt, daß Georgien tatsächlich auf ein verändertes Mandat drängt und eine internationale Peace-keeping- Truppe haben will, die im Ernstfall die Rückkehr der Flüchtlinge erzwingen soll. Das wollen die Russen auf keinen Fall, und so ist erst einmal alles blockiert.

So würde General Haroun das natürlich nicht bezeichnen. „Wir haben dem Sicherheitsrat drei Vorschläge gemacht, und ich gehe davon aus, daß er sich demnächst für eine Option entscheidet.“ Über die Russen ist der General voll des Lobes. „Wir arbeiten vorbildlich zusammen.“ Daß die UNO zur Lösung des Flüchtlingsproblems beitragen könnte, sieht allerdings auch Haroun al Raschid nicht. Allenfalls glaubt er, daß die UN-Beobachter durch ihre Präsens den bereits zurückgekehrten Flüchtlingen „ein wenig das Gefühl von Sicherheit geben kann“.

Der größte Teil der georgischen Flüchtlinge lebt jetzt unter oft erbärmlichen Bedingungen in und um Sugdidi, entlang der Waffenstillstandslinie auf georgischer Seite. Fast alle wollen zurück, auch wenn ihre Häuser zerstört sind und man bei einer Rückkehr praktisch bei Null anfangen müßte. Doch die abchasische Führung wehrt sich vehement gegen eine Rückführung. Sie will nicht wieder Minderheit im eigenen Land werden. Vor allem soll Georgien erst einmal eine Quasi-Unabhängigkeit anerkennen (Abchasien will eine Konföderation, mit Georgien gleichgestellt), dann könne man über die Rückkehr der Flüchtlinge reden. Allerdings haben die Abchasen lange Listen mit tatsächlichen oder vermeintlichen Kriegsverbrechern, die von einer Rückkehr ausgeschlossen werden sollen. Glaubt man den Flüchtlingen, sind davon fast alle georgischen Männer betroffen.

„Dabei“, klagt eine georgische Tierärztin, die mit ihrer gesamten Familie aus Suchumi vertrieben wurde, „waren die Abchasen viel schlimmer. Sie haben den Georgiern die Köpfe abgeschnitten und damit Fußball gespielt. Trotzdem wäre ich bereit, diese schlimmen Sachen zu vergessen.“

Andere denken eher an Rache. In den letzten Monaten nehmen Anschläge auf Polizeistationen und staatliche Versorgungseinrichtungen in Abchasien zu. Sogenannte Partisanen sickern durch die Waffenstillstandslinie auf abchasisches Gebiet ein, um klar zu machen, daß sie keine Ruhe geben werden. Mancher in Tiflis befürchtet, daß sie so einen neuen Waffengang provozieren wollen. Für die meisten Flüchtlinge ist Schewardnadse ein Verräter, der sich mit den Russen arrangiert und sie im Stich gelassen hat.

Auch Major Greipl befürchtet, daß die Spannung in der Grenzregion zunehmen wird. Genauso wie die anderen UN-Beobachter ärgert er sich, daß sie praktisch zur Tatenlosigkeit verdammt sind. „Solange wie wir draußen unterwegs waren, hat es erheblich weniger Zwischenfälle gegeben. Jetzt kracht es fast jeden Tag.“ Das bestärkt die UNO-Blauhelme zwar darin, in Georgien „im Prinzip einen sinnvollen Job zu machen“. Gleichzeitig zehrt die Untätigkeit an den Nerven. Der Aktionsradius für Greipl, Beyer und die anderen Männer in Sugdidi ist auf das unmittelbare Stadtgebiet beschränkt. Die Soldaten sind privat untergebracht und müssen über Funk ständig Kontakt zu ihrer Basis haben. „Selbst aufs Scheißhaus muß du das Walkie-talkie mitnehmen.“ Der Weg zwischen Basis und Unterkunft muß in einem UN- Auto zurückgelegt werden, eine ständige Fahrbereitschaft sorgt dafür, daß die Leute hin und herkommen. Selbst Joggen ist nur noch in der Gruppe erlaubt. Für Greipl ein schweres Opfer, da die anderen in aller Regel viel früher Schluß machen wollen als er.

Trotzdem bereut er seinen UN-Einsatz in Georgien nicht. Er würde sich sofort wieder für eine ähnliche Verwendung melden. „Ich hab' hier sehr viel gelernt. Die internationale Zusammenarbeit ist eine gute Erfahrung, da haben uns die anderen ja oft viel voraus.“ Vorbehalte gegenüber den Deutschen hat er überhaupt nicht zu spüren bekommen, eher im Gegenteil. „Alle hier haben uns sehr respektvoll behandelt.“