Sich auflösende Riesenkinder

Vom Verschwitzten und gänzlich Unverschwitzten: „Ich leckte das Deodorant einer Nutte“ von Jim Cartwright in der Baracke und eine ungarische Fortschreibung von Tschechows „Kirschgarten“ in den Sophiensälen  ■ Von Petra Kohse

Die Abende werden wärmer und die Inszenierungen kürzer. Das ist schön, und im Fall der Baracke sogar doppelt. Denn erstens mangelt es dort schon winters an Frischluft, und zweitens gibt es manchmal einfach nicht viel zu sagen. Oder ist es etwa abendfüllend, daß einer einen Deoroller im Mund und einen BH vor dem Gesicht braucht, um sich zu erregen? Soll er doch nuckeln und still sein. Zumal der „Mann“ in Jim Cartwrights zwei Jahre altem Stück „Ich leckte das Deodorant einer Nutte“ (deutsch von Ursula Grützmacher-Tabori) nicht wirklich ein Problem damit hat.

So werden in diesem Stück auch keineswegs seelische Rettungsringe aufgeblasen – was dramatisches Potential hätte –, sondern wird in disziplinierter Deprimiertheit nur das Sosein dargetan. Aufzeichnungen eines werdenden Fetischisten. Das Außenseitertum in der Schule, der paralysierende Tod der Mutter, die Psychiatrie, die Rückkehr in ein fiebriges Leben zwischen Pornoheft und Striplokal und schließlich die Entdeckung: daß ihr Bac auch sein Bac ist. Gegen die Sachbearbeitung dieser Beichte hat der englische Autor Momentaufnahmen aus dem Leben einer cracksüchtigen Nutte gesetzt, die den Fetischisten schließlich aus der Gosse zieht und ihn am Ende unter ihrem Bett wohnen läßt. „Jetzt kenne ich das Leben“, sagt er da, „ich lerne es jedesmal aufs neue kennen, wenn mich ein volles Kondom im Gesicht trifft.“

Christoph Roos hat dieses milieugetränkte Nebeneinander in der Baracke inszeniert, wo man bekanntlich viel von derlei britischen Underdog-Geschichten hält. Roos ist 29 Jahre alt und war Assistent in der Schaubühne. Er geht an diesen Stoff, als wär's kein Stück für ihn: mit spitzen Fingern und bestenfalls geschäftiger Verwunderung.

Ronald Kukulies sitzt gebückt im braunen Anzug, faltet nervös die Hände auf den Knien und äugt ängstlich-naiv unter seinem nach hinten gekämmten Blondhaar hervor: Heinz Rühmann goes Rain Man. Er erzählt nicht, sondern rezitiert, als müsse er sich mühsam seines Lebens erinnern. Bald schon hat ihn aber dies Leben gefangen, liegt er blutig und im BH verschnürt am Boden: ein Opfer.

Michaela Winterstein als Nutte dominiert da wie von selbst. Zuletzt arbeitete sie mit Jo Fabian, jetzt zeigt sie Robustheit in allen Tönen einer verzweifelten Vulgarität. Dafür ist sie der Typ, aber sie läßt sich (oder Roos läßt ihr) zuwenig Zeit. In adidas-Hose und Goldsandalen sportet sie durch den Text und ihre eigenen Nuancen. Eine ungeheure, aber eben auch ungenaue Betriebsamkeit herrscht zwischen dem ollen Klappbett und der Stripkabine mit Rosen an der Wand (Bühne: Peter Scior, Katrin Tag), ein Jogging der Gefühlslagen und sozialen Befindlichkeiten. Pausiert wird allenfalls im gespielten Witz. Recht technisch das alles und kalt, dann wieder fast kitschig, wenn Zuggeräusche ertönen und beider Schatten hoch an die Wand geworfen werden, bevor es einmal zu einem Kuß kommen will. Das Premierenpublikum aber mochte es.

Ganz anders tags darauf in den Sophiensälen. Völlig unverschwitzt wurde Tschechows „Kirschgarten“ fortgeschrieben und agierte das Budapester Ensemble Mozgó Ház (The Moving House Theatre Company). Mit den „Beckett Songs“ hatten sie dort schon zweimal Erfolg, jetzt treten die Sophiensäle sogar als Koproduzenten auf. Die Jahrhundertwende-Geschichte, wie die verarmte Adligenfamilie die letzten Tage auf ihrem Landsitz verbringt, wie die Verhältnisse ignoriert werden und am Ende eben doch das böse Erwachen kommt, weil der Hausverwalter das Anwesen gekauft hat und den morschen Garten abholzen läßt – diesen Einbruch der Moderne in die Feudalität setzen Mozgó Ház voraus und führen die Sache unter der Regie von László Hudi fort.

Drei Bildschirme zeigen Schauspieler, die als Nachbar, ehemaliger Bediensteter oder neuer Besitzer über den Verkauf des Kirschgartens Auskunft geben. Der Text wird ins Deutsche übersetzt, ist aber meist nicht zu hören, sondern wird von der blechern hämmernden Geräuschkulisse möglicher Bauarbeiten übertönt und auch bewußt leise gedreht. Nicht auf die einzelne Meinung kommt es an, sondern darauf, daß das Traurige der Geschichte in einem Alltagskontext relativiert wird. Und daß man ungeschminkte Gesichter von heute präsent hat, während das Ensemble oben auf einer Bretterbühne, puppenhaft ruckelnd, diese letzten feudalen Tage doch noch einmal nachspielt. Aber auch das nicht naiv, sondern mit dem Wissen um das Ende: nicht als Residierende, sondern als Reisende, als Clowns auf der Flucht.

Nackt versammeln sie sich anfangs zum Familienbild, teils in Unterwäsche fügen sie sich später in stummfilmhaft bizarre Arrangements, mit denen sie die historischen Fotos einer unbeschwert müßiggehenden Familie nachstellen, die hinter ihnen an die Wand geworfen werden. Das Elegische der Vorlagen wird dabei unter Dutzenden von Koffern und Perücken begraben, durch Slapstick ausgetrieben und durch Schrecken verzerrt: Vor einem Kinderidyll sitzt eine grotesk zum Riesenkind ausstaffierte Darstellerin mit zwei Begleitern, die sich über sie beugen. Doch dabei klackern ihnen die Zähne aus dem Mund, und als sie ihr das Haar kämmen, löst es sich in Büscheln. Auch Hände und Füße fallen ab, bis sich aus dem Nichts ein neues Bild ergibt.

Eine virtuose und uneitle Arbeit, die von einem sehr heutigen und urbanen Standpunkt aus mit der osteuropäischen Tradition des Absurden spielt. „Das Leben ist halt gnadenlos“, sagt einer der Darsteller über Video am Ende mit todtraurigem Blick. „Es hat aber auch schöne Seiten...“

„Ich leckte...“, wieder 7./8.6., 20 Uhr, Baracke; „Kirschgarten“, bis 31.5., 2.–7.6., 20 Uhr, Sophiensäle