■ Die Linke und der Staat (1): Der Staat wird zum geschäftsführenden Ausschuß der Bürgerklasse. Das zu stoppen ist die Aufgabe der Linken
: Das delikate Erbe

Die etablierte Politik ist ins Laufen geraten. Die Liberalen werden marktradikal, die Sozialdemokraten entdecken den neuen Mittelstand, den auch die Grünen umschwärmen, und die Konservativen schwanken zwischen Fitneßprogrammen für die Weltwirtschaft und kommunitaristischer Gemeinschaftssehnsucht. In dieser Situation fällt der Linken ein delikates Erbe zu – der Staat.

Kann sie damit etwas anfangen? Das hängt davon ab, welchem Strang der Überlieferung sie folgt. Es sind deren im wesentlichen drei.

„Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“

Der Satz, 1848 von Marx formuliert, gab die Erfahrung der arbeitenden Massen im damaligen Europa wieder. Ohne Wahlrecht, auf der politischen Bühne nicht präsent, brutalster Arbeitsdisziplin unterworfen, sahen die Massen Staat und offizielle Politik als bloße Handlanger des Kapitals. Der Gedanke, die Staatsmaschinerie für eigene Zwecke einzuspannen, konnte so nicht aufkommen. Staat – das war weithin identisch mit Ausschluß- und Unterdrückungserfahrungen. Die Arbeiter, forderte Marx zwei Jahre früher, „müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen“. Punktum.

„Jedes geringfügige Einzelinteresse, das aus den Beziehungen der sozialen Gruppen hervorging, wurde von der Gesellschaft selbst getrennt, fixiert und von ihr unabhängig gemacht und ihr in der Form des Staatsinteresses, das von Staatspriestern mit genau bestimmten hierarchischen Funktionen verwaltet wird, entgegengestellt.“

Dieser Satz, wieder von Marx, diesmal aus dem Jahr 1871, resümiert die sich vom Absolutismus herleitende Tendenz zur Zentralisierung und Bürokratisierung alles Sozialen. Er artikuliert eine veränderte Wahrnehmung. Der Staat ist noch immer das andere, Feindliche. Aber diesmal bedroht er nicht nur die Arbeiterschaft, sondern die ganze Gesellschaft. Die ächzt unter diesem „tödlichen Alp“ und begrüßt die Pariser Kommune als „eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft, als Rücknahme des gesellschaftlichen Lebens des Volkes durch das Volk und für das Volk“. Im Konzept einer allumfassenden Selbstregulierung, die Gemeinden, Städte, Regionen, ja die ganze Nation umspannt und nur ein Minimum an Staatsfunktionen übrigläßt, scheint der Kommunitarismus unserer Tage auf.

„Damit aber Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ,Ordnung‘ halten soll, und diese Macht ist der Staat.“

Diesen dritten, hier leicht gerafften Satz schrieb Engels ein Jahr nach Marx' Tod, 1884. Auch das eine Korrektur. Der Staat verteidigt die herrschende Ordnung, aber er bezieht die Beherrschten zunehmend in diese Ordnung ein. Das bleibt nicht ohne Folgen. Mit den Anfängen der europäischen Sozialgesetzgebung schleift sich der einst absolute Gegensatz der radikalen Linken zum Staat langsam, aber sicher ab. Die schrittweise Eroberung politischer Rechte durch die Unterschichten weist in dieselbe Richtung. Neben dem Instrument der bürgerlichen Klassenherrschaft, neben der verselbständigten Bürokratie erscheint zum ersten Mal der große Moderator, der Staat als zivilisatorische Instanz – Beginn des sozialdemokratischen Arrangements mit dem Staat.

Heute sieht sich die Linke um die Früchte dieser Strategie betrogen. Das Kräfteverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Großgruppen, Jahrzehnte lang halbwegs austariert, hat sich deutlich zugunsten der Kapitalbesitzer entwickelt. Der große Moderator des sozial Gebotenen weicht dem unerbittlichen Vollstrecker des wirtschaftlich Notwendigen. Die staatliche Umverteilung mildert die aus der Primärverteilung der Einkommen erwachsenden Kontraste nicht länger; sie verstärkt sie sogar noch. Der Anteil effektiv verfügbarer mittlerer Einkommen am Gesamteinkommen geht zurück, der Anteil der unteren und oberen Einkommen nimmt zu. Das relative Steueraufkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sinkt trotz steigender Gewinne ständig, und im selben Maße wächst die Steuerlast von Arbeitern und Angestellten. Die leeren Kassen der öffentlichen Hände, unter denen gerade die zu leiden haben, die ihr Soll erfüllen, sind hausgemacht; sie entspringen der politischen Feigheit vor den wirtschaftlich Mächtigen.

Gerade weil der Staat sich derart zum geschäftsführenden Ausschuß der Bürgerklasse zurückzubilden scheint, muß die Linke versuchen, ihn in die gesellschaftliche Pflicht zu nehmen. Gerade weil das Bürgertum auf seinem globalen Egotrip von nationalen Interessen nichts mehr wissen will, muß die Linke diese Interessen festhalten; darauf bestehen, daß nur eine weitsichtige, sozialstaatlich regulierte Wettbewerbsordnung auf Dauer bestehen kann. Sie verteidigt damit auch das wohlverstandene Eigeninteresse der Eliten, vorzüglich jedoch ihren eigenen Anteil an der Zivilisierung des Staats. Die Forderung, den Staat zu stürzen, kann sie derweil getrost den fahnenflüchtigen Etatisten von gestern überlassen. Kommunitaristische Entstaatlichungsprojekte ebenso. Die liefern ohnehin nur die grün- konservative Folklore für das große Reinemachen. Die Zeiten haben sich geändert. Auf dem geordneten Rückzug singt man andere Lieder als bei heroischen Sturm auf die Festung.

Das schließt Kritik am Staat nicht aus. Das staatliche Steuermonopol muß die Bürger nach Maßgabe ihrer finanziellen Möglichkeiten belasten. Das staatliche Gewaltmonopol kann nur dann auf ein Ja der Linken rechnen, wenn die Bekämpfung der Ursachen für gewaltsamen Protest Vorrang vor der Symptombekämpfung genießt. Jede Mark, die dem Ausbau von Gefängnissen zugute kommt, geht der Bildung verloren.

Kritik, desweiteren, in allen Fällen, in denen der Staat seine Machtmittel genießerisch zur Schau stellt und dadurch zu aussichtslosen Mutproben überhaupt erst einlädt. Mit dem Ordnungspathos der „neuen“ Sozialdemokraten von Blair bis Schröder hat die Linke nichts gemein. Sie kann und muß den Staat gegen seine abtrünnige Klientel verteidigen; aber sie muß das auf eine Weise tun, die den Steinewerfer in höherem Maße mit dem Gemeinwesen versöhnt als den Innenminister. Wolfgang Engler