Eine Rettung war nicht möglich

Tragen die USA eine Mitschuld an der Ermordung der europäischen Juden während der NS-Zeit? Der US-Historiker William D. Rubinstein verneint die Frage, allerdings mit einer zweifelhaften Begründung  ■ Von Annette Jander

Casablanca, 1943. Einwanderungswillige jüdische Flüchtlinge müssen den US-Konsulaten nicht nur finanzkräftige Sponsoren, sonder auch eine Schiffspassage in die USA vorweisen. Alle amerikanischen Schiffe dienen allein der Kriegsführung. Doch die Militärs in Casablanca erklären sich bereit, die bei ihrer Rückfahrt in die USA oft fast leeren Truppentransporter Flüchtlingen mit gültigen Visa zu öffnen. Das Konsulat in Casablanca willigt ein, aber nur 14 Flüchtlinge erreichen auf diese Weise ihr Ziel. Denn die Visaabteilung des US- Außenministeriums bekommt Wind von der Sache und weist das Konsulat an, daß der Schiffspassagennachweis bereits dem Visumantrag beiliegen muß. Da die Militärs nur bei gültigem Visum die Passage garantieren wollen, gibt es keine Möglichkeit mehr, in die USA zu kommen.

In einem Teufelskreis wie diesem fanden sich viele in der Kriegszeit Gestrandete wieder. In Hafenstädten wie Marseille, Lissabon oder Casablanca saßen Tausende fest, vor allem Juden, und verfolgten angstvoll den Marsch der Nazis durch Europa. Viele waren bereits in den dreißiger Jahren aus Deutschland geflüchtet, meist mach Frankreich oder Holland, wo sie die Nazis wieder einholten. Die Flucht ging weiter. Wieder mußten Visa, Transvisa, Aufenthaltsgenehmigungen beantragt, erkauft oder gefälscht werden. Die inzwischen meist mittellosen Flüchtlinge waren auf die Unterstützung der Hilfsorganisationen angewiesen.

Vielleicht das Auffallendste an einer neuen Publikation zu diesem Thema, „The Myth auf Rescue“, (Der Mythos der Rettung) des amerikanischen Historikers William D. Rubinstein ist die Tatsache, daß er die mühevolle Kleinstarbeit der Hilforganisationen ignoriert. Wie auch die Tatsache, daß die Flüchtlinge in erster Linie gegen eine bürokratische Mauer rannten, errichtet von der Visaabteilung des amerikanischen Außenministeriums. Rubinstein sieht in seinem Buch den endgültigen Beweis erbracht, daß die anderen historischen Publikationen, die vor allem die amerikanische Regierung anklagen, die jüdische Bevölkerung Europas offenen Auges im Stich gelassen zu haben, „inakkurat und mißverständlich, deren Argumente unlogisch und unhistorisch sind“. Er hält eine Rettung der Juden vor den Vernichtungslagern unter den damaligen Umständen für unmöglich.

Die Frage der moralischen Mitschuld am Tod vieler, die in Auschwitz ermordet wurden, weil sie kein Visum in die USA oder in andere Länder bekamen und auch sonst nichts zu ihrer Rettung beschlossen wurde, wird seit den 80er Jahren unter amerikanischen und israelischen Historikern diskutiert.

1984 veröffentlichte Davis S. Wyman eine flammende Anklage der amerikanischen Einwanderungspolitik, „The Abandonment of the Jews“ (Die im Stich gelassenen Juden), in der auch der eingangs beschriebene Fall erscheint. Das Buch ist oft schwer verdaulich, weil Wyman an vielen Einzelschicksalen die Summe der Verzweiflung gegenüber den bürokratischen Fallstricken bechreibt. Ein polemisches Buch, aber gestärkt durch die Publikation zweier Historiker von der American University in Washington, D.C., Richard Breitman und Alan M. Kraut: „American Refugee Policy and European Jewry 1933–1945“ und ergänzt durch Jehuda Bauers „Jews for Sale?“, in dem dieser die Verhandlungen mit den Nazis um jüdische Leben untersucht.

Rubinstein meint, die Historiker zu widerlegen, die davon ausgehen, viel mehr Leben hätten aus dem Europa der Nazizeit gerettet werden können. Viel zu oft stützt er er sich dabei auf eine reine Wertung, daß Pläne zur Rettung der Juden in jedem Fall nicht realisierbar waren. Dann wieder schreibt er, es hätte überhaupt keine Pläne zur Rettung der europäischen Juden gegeben.

Seine Hauptargumente sind, daß nach Ausbruch des Krieges keine Juden mehr aus Europa zu retten waren, man sollte also höchstens die Rettung der 600.000 deutschen Juden diskutieren. Die deutschen Juden wiederum wollten laut Rubinstein erstens gar nicht auswandern, und zweitens haben es fast alle geschafft. Etwa zwei Drittel der deutschen Juden haben tatsächlich die Hitlerdiktatur überlebt.

Rubinstein ignoriert dabei aber die Rolle der damals existierenden Auswanderungsbedingungen. In Amerika gab es zwar eine reguläre Einwanderungsquote für Deutsche, die jährlich immerhin fast 20.000 Einwanderungen vorsah. Tatsächlich wurden aber bis Ende 1938 nur 10 bis 25 Prozent dieser Quote ausgefüllt, was nicht an mangelndem Andrang lag, sondern an einer Sonderklausel, nach der die Einwanderungswilligen einwandfrei nachweisen mußten, daß sie niemals Fürsorge in den USA beanspruchen werden. Ob dieser Nachweis erbracht wurde, lag allein im Ermessen des Konsularbeamten. Gründe für eine Ablehnung des Visumantrags wurden prinzipiell nicht genannt, ein erneuter Antrag konnte erst wieder nach sechs Monaten gestellt werden. Es kam vor, daß aus Deutschland Deportierte gültige US-Visa besaßen. Durch den großen Andrang bedingt, wurden Visa vergeben, die erst Monate später zur Einreise in die USA gültig wurden. Allerdings verfielen sie auch wieder nach sechs Monate. Dieser Prozedur fühlten sich nicht alle gewachsen.

Der Vorwurf, den Wyman und andere Historiker der Roosevelt- Regierung und vor allem dem amerikanischen Außenministerium machen, ist in erster Linie ein moralischer. Der fehlende Wille der USA, trotz vieler Lippenbekenntnisse von Franklin D. Roosevelt, eine aktive Einwanderungspolitik zu unterstützen, die Menschenleben gerettet hätte, bleibt unterm Strich stehen. Erst 1944 gründeten die USA ein „War Refugee Board“, eine staatliche Stelle zur Unterstützung von Flüchtlingen in Europa, der Wyman Effektivität nachweist, während Rubinstein schreibt, sie habe fast niemandem genutzt. Es werden also wieder jüdische Menschenleben aufgerechnet.

In der Geschichtsschreibung gibt es schon zu viele „Was wäre gewesen, wenn...“-Denkspiele. Trotzdem bleibt die Frage fragenswert, was man zur Rettung der Juden von demokratischer Seite unternommen oder nicht unternommen hat, unter welchen Zwängen vor allem die USA standen und welche Rolle dabei der Antisemitismus spielte. Vergessen werden darf auch nicht, daß die USA und Großbritannien eine große Zahl an jüdischen Flüchtlingen aufgenommen haben.

Rubinsteins „The Myth of Rescue“ ist ein interessanter Diskussionsbeitrag, es kann aber allein keine Antwort geben.

William D. Rubinstein: „The Myth of Rescue. Why the democracies could not have saved more Jews from the Nazis“. Routledge, London, New York 1997

David S. Wyman: „The Abandonment of the Jews. America and the Holocaust 1941–1945“. New York 1984

Richard Breitman, Alan M. Kraut: „American Refugee Poliy and European Jewry, 1933–1945“. Indiana University Press 1987

Yehuda Bauer: „Jews for Sale? Nazi Jewish Negotiations 1933–1945“. Yale University Press 1994