Rückkehr vom Bewußtsein zum DNA-Code

■ Timothy Leary starb so öffentlich, wie er lebte. Jetzt gibt es sein „Totenbuch“ auf deutsch

„Ich bin nicht gerade ein Anhänger der Political Correctness. Immer wieder fällt sie in die schönen Wortgebilde des Normalbürgers ein und stülpt ihnen gespreizte, bürokratisch klingende Wortkombinationen über. So steht beispielsweise nicht Timothy Learys Lebenserwartung in Frage, er ist vielmehr ganz einfach am Sterben – beziehungsweise tot, wenn Sie das lesen.“ Das ist der unverwechselbare O-Ton einer Ikone der amerikanischen Gegenkultur, wie sie leibte, lebte und starb: Timothy Leary, ehemaliger Psychologieprofessor an der Harvard University, Veteran der Beat- und Hippiegeneration, Drogenguru der sechziger Jahre, New-Age- Apostel und Partylöwe, langjähriger Gefängnisinsasse und Anhänger einer telematischen Kommunikationsfreiheit im Zeichen des Internet, seriöser Wissenschaftler und bissiger Gesellschaftskritiker, passionierter Antidogmatiker, der hinter fast alle religiösen, wissenschaftlichen und logischen Überzeugungen seiner Gegenwart Fragezeichen gesetzt hat. Als er von seiner unheilbaren Krebserkrankung erfuhr, beschloß er, so öffentlich zu sterben, wie er gelebt hatte.

„Ich wollte meine Gedanken und Handlungen offenlegen, selbst wenn sie tabu oder illegal sein sollten, so daß ich die zwangsläufige Aufmerksamkeit nutzen konnte, um gegen die Scham, die die Gesellschaft angesichts des Todes empfindet, anzugehen.“ Konkret bedeutete das, daß Leary sein Sterben zu einer Art Performance machte; er umgab sich mit Freunden, lud Journalisten und Kamerateams ein, gab bereitwillig und ausführlich Interviews und richtete sogar im World Wide Web eine Homepage ein, die so gestaltet war, daß Besucher sich durch sein Haus klicken konnten. Timothy Learys Totenbuch ist eine Dokumentation dieses öffentlichen Sterbens, das ein Protest gegen die Verdrängung des Todes aus der Gesellschaft war.

Die Texte des Buches sammeln noch einmal die Themen ein, die Leary umgetrieben haben, Drogen und Drogenpolitik nämlich, philosophische, psychologische und biochemische Grundfragen, kosmische Spekulationen, ebenso anregende wie gewagte, gelegentlich wohl auch etwas spinnerte Überlegungen zur Menschheitsentwicklung und den Bedingungen von Kybernetik und Nano-Technologie, also etwa die Frage, inwieweit neuronale Verbindungen zwischen Mensch und Mikrotechnologien entstehen und welche evolutionären Konsequenzen sich daraus ergeben. Dazu kommen kluge und provokante Bemerkungen zum Sterben, zum Tod und zu dem, was danach kommt – wenn denn noch etwas kommt.

Learys Jenseitsvorstellungen sind erfreulich unsentimental und überraschend nüchtern. „Wir werden“, sagt er, „zu dem DNA-Code, auf dem das ganze Drehbuch basiert. Das Bewußtsein kehrt zum genetischen Code zurück.“ Timothy Leary starb am 31.Mai 1996. Die Urne mit seiner Asche wurde, seinem Wunsch gemäß, in den Weltraum geschossen. Eine letzte Inszenierung, die inzwischen zur Anekdote geworden ist. „Die Sache ist nur“, sagt Leary in seinem „Totenbuch“, „daß die ganze Welt aus Anekdoten besteht.“ Klaus Modick

„Timothy Learys Totenbuch“. Deutsch von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck. Ullstein Metropolis, Berlin 1998, 287 S., 28DM